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Ausgabe:

1992

Spalte:

935-937

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sosna, Werner

Titel/Untertitel:

Die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus 1992

Rezensent:

Pfleiderer, Georg

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935

Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 12

936

Sosna, Werner: Die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus.
Grundlagen und dogmatische Explikation der Christologie
Hcrman Schells. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schö-
ningh 1991. VII, 319 S. gr.8 = Paderborner theologische Studien
. 20. Kart. DM 48,-.

„Schell war ein eminent spekulativer Kopf. Dagegen mangelte
ihm das historische Verständnis." Das respektvoll-kritische Urteil
, welches Th. Engert in der ersten Auflage der RGG über Her-
man Schell (1850-1906) fällt, ließe sich - etwas modifiziert -
auch auf die ihm gewidmete Untersuchung von W. Sosna anwenden
. Das Buch bietet eine konzise Rekonstruktion der Christologie
bei Herman Schell. Und es liefert darüber hinaus mit großer
begrifflicher Präzision und auf hohem argumentativen Niveau
den Nachweis, daß dieses Lehrstück den konstruktiven Schlüssel
zum Verständnis des spekulativen Systems jenes Reformkatholi-
ken insgesamt birgt.

Es ist, wie der Vf. lückenlos dokumentiert, die gerade als die
Realisierung der „axiomatischen Unveränderlichkeit Gottes"
(920 gedachte Logik des Vollzugs der „personale(n) Selbstmitteilung
Gottes" (5) „in absoluter Freiheit" (38), die das strukturelle
Rückgrat der Gesamtsystematik darstellt. Der Mehr-Wert definitiver
Sclbstaufschließung Gottes gegenüber einer äußerlichen Erschließung
durch das Endliche regelt das Verhältnis von Offenbarung
und Religion (29, 42f)- Ebenso wird die Vollzugslogik der
Selbstmitteilung der göttlichen Person(en) als das konstitutive
Prinzip der immanenten Trinität (44-54), der Schöpfung (61 ff),
ihres durch die Schöpfungsmittlerschaft Christi (69) bedingten
finalen Charakters (69, 95) und als die Voraussetzung des Gedankens
von der „Identität von immanenter und heilsökonomischer
Trinität" (12, 72) erkennbar. Die Christologie ist ,von oben' - als
„Sendung" (75) - wie „von unten" (157) als „Totalhingabe an
Gott" (245) durch denselben Gedanken wechselseitiger Selbst-
entäußerung geregelt, der schließlich auch die Anthropologie, das
Verhältnis der Glaubenden zu Gott, als „Lebensgemeinschaft
mit dem Ewigen'" (157) bestimmt. Pointe und Ziel des göttlichen
Sclbstentäußerungsprozesses an das andere seiner selbst ist die
Befreiung dieses anderen zu freier .„Selbstbetätigung"' (166).

Was die Arbeit nicht bietet (und auch nicht bieten will), ist eine
historische Rekonstruktion der Genese der Position Schells. Von
der immanenten Entwicklung des Schellschen Denkens wird abstrahiert
. Ebenso werden die (diffizilen) Fragen der geistesgeschichtlichen
Einordnung Schells nur am Rande berührt.

Diese Abblendungsstrategie dient dem Interesse an der bestimmten
Aktualisierung und Rehabilitierung dieses vielleicht
bedeutendsten Vertreters eines spekulativen Reformkatholizismus
. Durch den Aufweis mannigfaltiger Bezüge und Parallelen
zu Grundeinsichten anerkannter katholischer (und evangelischer
- K. Barth! [100] -) Theologen des zwanzigsten Jh.s wird die
These belegt, „die christologische Reflexion Herman Schells (dokumentiere
) Antizipation und einen (nicht nur für seine Zeit) exemplarischen
Beitrag für das mit dem Zweiten Vatikanischen
Konzil geforderte Aggiornamento als Heutigwerden des Glaubens
und seiner Inhalte." (303)

Die Art und Weise dieser sich in Schells Werk manifestierenden
„Begegnung von modernem Denken und christlichem Glauben
" (5) wird vom Vf. strukturell und durchgängig als eine apologetische
bestimmt. Schells Bedeutung wird darin gesehen, daß es
ihm (im großen und ganzen) gelungen sei, der zentralen christlichen
Glaubenswahrheit gegenüber dem modernen Denken,
unter dessen Bedingungen und mit dessen eigenen Mitteln, zur
Durchsetzung verholfen zu haben. Dieser seiner inneren Tendenz
nach instrumenteile Gebrauch des modernen Denkens, der
methodologisch dem klassischen Substanz-Akzidenz-Schema
verpflichtet ist, könnte dem apologetischen Interesse und Selbstverständnis
H. Schells durchaus angemessen sein.

Im Zuge dieses Verfahrens einer strukturidentischen Reproduktion
der Konstruktionsmethode ist die Untersuchung nun
aber dazu gezwungen, die von Schell avisierten Adressen seiner
Apologetik wenigstens ansatzweise zu eruieren und das Verhältnis
zu benennen, in dem die Schellsche Spekulation zu maßgeblichen
zeitgenössischen philosophischen und theologischen Entwürfen
steht. Dabei wird die Schranke des Verfahrens daran
erkennbar, daß der Vf. sich genötigt sieht, tendenziell alle Hinweise
auf einen nichtinstrumentellen, sondern systematisch-
strukturellen Gebrauch moderner Denkfiguren bei Herman
Schell entweder zu negieren oder ins Halbdunkel von Drittzitaten
im Fußnotenkeller zu verlagern (vgl. z. B. 118f, Anm. 42).
Durch die impliziten (130, 193) und expliziten (74) Reproduktionen
der einseitigen Selbstabgrenzung Schells von der idealistischen
Philosophie insbesondere G. W. F. Hegels (129) wird
nicht ausreichend deutlich, wie groß Schells Nähe zu idealistischen
Grundgedanken namentlich in zeitgenössischen Modifikationen
, wie sie sie etwa im System von I. A. Dorner gefunden
haben, tatsächlich gewesen ist. (Zu Dorner vgl. diesbezüglich die
Arbeit von Christine Axt-Piscalar: Der Grund des Glaubens.
Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zum Verhältnis von
Glaube und Trinität in der Theologie Isaak August Dorners.
Tübingen 1990.) So kann die historische Leistung, die - ob gelungen
oder nicht - in Schells Versuch besteht, das klassisch metaphysische
„Axiom der Unveränderlichkeit Gottes" (108) mit der
modernen - auf Kant und Hegel zurückgehenden - Einsicht von
der Relationsbestimmtheit der Substanzkategorie zu vermitteln,
zwar differenziert nachvollzogen, aber nicht eigentlich funktional
rekonstruiert und historisch gewürdigt werden.

Ähnliches gilt mutatis mutantis von der einseitigen Reproduktion
der kritischen Bezugnahmen auf die zeitgenössische liberale
Theologie, als deren Kronzeuge explizit meist Adolf von Har-
nack firmiert (- der implizite Gesprächspartner ist häufig
Troeltsch). Durch die Hinweise auf die in Schells Augen theologisch
insuffiziente - weil rein „anthropologisch" (238) verfaßte -
Christologie der liberalen Theologie tritt in den Hintergrund, wie
intensiv und nachgerade bestimmend für den Gesamtduktus der
Schellschen Systematik die Auseinandersetzung mit den Protagonisten
dieser spezifisch modernen Theologie gewesen ist. Denn
die eigentliche Spitze der apologetischen Intentionen Schells besteht
, wie sich an der vorgelegten Rekonstruktion des Systems
klar ablesen läßt, in dem Anspruch, mit den Mitteln einer spekulativen
Dogmatik die Themenbestände einer religionsgeschichtlichen
Arbeit am Christentum einholen, deren Methodik überbieten
und ihre Resultate - etwa Troeltschs Relativicrung der
Absolutheit Christi (236, 262) - negieren zu können.

Zwar werden in diesem Zusammenhang einzelne historische
Insuffizienzen des Schellschen Verfahrens eingeräumt (z. B. die
pauschale Annahme der Historizität der in den synoptischen
Evangelien überlieferten Erzählstoffe; vgl. 238). Darüber hinaus
werden in Schells Versuch, den historischen Jesus mit dem
dogmatischen Christus auszusöhnen, „Aporie(n)" (251) konstatiert
. Aber die strukturellen Gründe für diese Aporien bleiben
unaufgehellt. Darum kann aber auch die Frage nicht gestellt
werden, was diese Aporien für eine heutige systematischtheologische
Wertung des spekulativen Systems von Herman
Schell bedeuten.

Die Apologie der Apologetik H. Schells, die in der vorliegenden
Arbeit geleistet wird, macht sich kirchenpolitisch auf eindrucksvolle
Weise die Tatsache zunutze, daß die Christologie H.
Schells zu denjenigen Themenbeständen seiner Theologie gehört,
die von einer Indizierung verschont geblieben sind. Zu fragen
wäre allerdings, ob das in ihr zur Durchführung gelangte Verfahren
die Ehrenrettung jenes bedeutenden theologischen Systems
tatsächlich zu leisten vermag, denn es untertunnelt gewissermaßen
- wenn auch auf zweifellos elegante Weise - den Kern der