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Ausgabe:

1992

Spalte:

925-927

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hanimann, Thomas

Titel/Untertitel:

Die Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert 1992

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 12

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des Pietismus gäbe. Das wäre sehr verwunderlich. An keiner
Stelle des Buches wird das denn auch behauptet. Die Vergleiche
zwischen den Texten werden sorgfältig gezogen. Auch gegenseitige
Abhängigkeiten werden keineswegs vorschnell gesehen. Die
Zuordnung der beiden anonymen Texte und des Textes von Si-
nold unter den „Geist des halleschen Pietismus" (69) wird inhaltlich
begründet. Der verbesserte Fürstenstaat wird mehr zur „Po-
licey-Litcratur" als zu den Utopien gerechnet (70), was durchaus
richtig ist. An dieser Stelle bricht natürlich die Frage auf, ob man
diese Gattung so isolieren darf, wie es hier geschieht. Sie enthalten
ja sehr viel kritische Umschreibungen der vorfindlichen Verhältnisse
und geraten damit in die Nachbarschaft der sehr viel
größeren Gattung der Reformschriften. Von besonderem Interesse
sind die sorgsam herausgearbeiteten Ubergänge zwischen
Pietismus und Aufklärung. Das Neben- und Ineinander von Pietismus
und Aufklärung bedarf dringender weiterer Erforschung.

Im einzelnen ergeben sich Rückfragen: Andreaes Christiano-
polis ist nach Thomas Topfstedt „Idealbild einer gelehrten Gesellschaft
", die Andreae 1617 geplant und 1620 zu gründen versucht
hat (BWKG 1983/84, 20-33, Aufsatz über die städtebaulichen
Aspekte von Christianopolis). Die Abgrenzung der erbaulichen
Versammlungen von Sinold gegenüber Speners Colle-
gia pietatis ist m.A.n. nicht so klar, wie der Verfasser meint
(11 5). Bei den Wurzeln für die Armenfürsorge braucht man nicht
auf Luther und Karlstadt zurückzugehen (75). Wahrscheinlich
sind Speners Bemühungen hier aufgearbeitet worden (vgl. Willi
Grün: Speners soziale Leistungen und Gedanken, Würzburg
1934). So vergessen, wie der Vf. meint (185), ist Bachstrom nicht.
Bei Hildegard Zimmermann: Caspar Neumann und die Frühaufklärung
. Witten 1969 AGP 4, 106-110 wird er verhandelt, und
CS wird auch auf andere Literatur verwiesen. Ob er in Halle studiert
hat (138 Anm. 37), läßt sich im gedruckten Matrikelverzeichnis
nachprüfen. Zimmermann meint, er habe in Jena studiert
. Im Inhaltsverzeichnis und in der Überschrift (69) ist
anscheinend der Titel von Seckendorffs Schrift: Teutscher Fürsten
-Staat weggeblieben, da sonst der Genetiv nicht verständlich
ist. Dem Buch fehlt leider ein Personenregister.

Insgesamt ist zu sagen, daß der Vf. mit Auswahl und Interpretation
dieser weitgehend unbekannten Schriften gezeigt hat, daß
einige mehr oder weniger pietistisch geprägte Autoren auch in
der Form solcher utopischen Entwürfe gesellschaftliche Konsequenzen
ihres christlichen Glaubens darzustellen gewagt haben.

Potsdam Peter Schickctanz

Hanimann, Thomas. Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert
. Eine Untersuchung zur Geschichte der freien christlichen
Gemeinde im Ancien Regime. Zürich: TVZ 1990. VIII, 343 S.
8 . Kart. sFr 38.-.

Diese Dissertation an der Philosophischen Fakultät I der Universität
Zürich versteht sich selbst als sozialgeschichtliche Arbeit
. Sic untersucht eine Phänomengruppe, die auch nach der
Lektüre der Arbeit seltsam schwer umschreibbar erscheint. Es
handelt sich um obrigkeitlich wie kirchlich aktenkundig gewordene
Auffälligkeiten im kirchlichen Leben des Kantons Zürich,
die in den Verdacht geraten waren, straff staatskirchlich geprägten
Normen nicht mehr zu genügen. An solchen Aktivitäten beteiligte
oder mit ihnen sympathisierende Personen wurden vor
allem seit Beginn des 18. Jh.s beobachtet bzw. zur Rechenschaft
gezogen. Der Vf. beschreibt zunächst die täuferische Tradition in
Richterswil. stellt dann als prominenten nonkonformistischen
Reformer den Obmann Johann Heinrich Bodmer und sein
Schicksal vor und skizziert pietistische Theologen in Zürich, die
nicht separatistisch gesinnt waren, sondern eine Reform der Kirche
im Sinne hatten. Weitere die Phänomene beschreibende Kapitel
befassen sich mit Konventikeln in Winterthur, nonkonformistischen
Gemeinschaften zwischen Horgen und Hausen, dem
Separatismus im Zürcher Oberland und im Knonauer Amt, der
Entwicklung des Separatismus um die Jahrhundertmitte und der
Ausbreitung des Nonkonformismus. Dazu kommt sozusagen als
Sonderfall die Beschreibung des Weges des Müllers Rathgeb aus
der Nähe von Dietlikon, der durch den Besitz einer Hausorgel,
einer ansehnlichen Bibliothek und durch Singstunden auffiel, zu
denen er Kinder der Umgebung einlud. Der Müller wurde zweimal
verbannt und verlor seine gesamte Habe, hat sich aber offenbar
nie als Separatist gefühlt und die Einwände nie verstanden,
die gegen ihn seitens der Obrigkeit vorgetragen wurden.

Einige weitere Kapitel der Arbeit versuchen, die Binnenperspektive
der beschriebenen Bewegungen zu zeichnen: die Struktur
der Konvcntikel, Glaubenslehre und Ethos des Nonkonformismus
, das Bild von Kirche und spezifischen Glaubenshaltungen
. Eine eigene Beschreibung erfahren die Reaktionen
der Obrigkeit. In einem für die Forschung wichtigen Quellenanhang
werden Briefe von behandelten Personen, ein Bericht über
einen Besuch bei dem Müller Rathgeb, das Verzeichnis der bei
ihm gefundenen Bücher und die Aufzeichnung einer Inspiration
(von Ulrich Giezendanner) mitgeteilt. Begriffserklärungen zu
zeitgenössischen Termini des kirchlichen Lebens in Zürich sowie
ein Personenregister beschließen den Band.

Er vermittelt eine außerordentlich anregende Lektüre, weil er
anhand von meist ungedruckten Quellen in bisher wenig erforschtes
Gelände führt. Wer mit der pietistischen Bewegung vertraut
ist, wird von anderswoher Bekanntes wiederfinden: das
Einsiedlerideal (96, 218), die Konflikte mit staatskirchlichem
Denken (79f, 279ff), die Gebetspraxis (162ff), aber auch Spannungen
innerhalb der beschriebenen Gruppen (225-228). Eigene
Akzente setzt die Arbeit durch ihren sozialgeschichtlichen Ansatz
. Er vermittelt interessante und anregende Aspekte, so etwa
in dem Kapitel, das sich mit den Konventikeln und ihrer Struktur
befaßt (151-169). Dem gegenüber überrascht es, sowohl im
Untertitel der Untersuchung als auch im Vorwort dezidiert theologisch
-systematische Feststellungen zu finden, die auf ein Verständnis
der Untersuchung in eine deutlich ekklesiologisch bestimmte
Richtung zu zielen scheinen. Andererseits hätte die
Einbeziehung überterritorialer Aspekte vielleicht noch eine
Schärfung der sozialgeschichtlichen Untersuchungseinstellung
bringen können. So z. B. fällt auf, daß im Untersuchungsgebiet
unter den behandelten Personen dieselben Berufe auftauchen wie
in vergleichbaren Gruppen der pietistischen Bewegung in anderen
Territorien.

Dem Theologen fallen am stärksten Schwächen und Unschär-
fen im Bereich der Verarbeitung theologischer Aspekte und ihrer
Traditionen auf, so in der Stellung zum inneren Wort (194, 198),
zur angeblich der Allversöhnungslehre sehr nahekommenden
Lehre von der gratia universalis (204), die Wertung des Gottesverhältnisses
im Nonkonformismus („Der Nonkonformist ist zu
Gott in ein direkt dialogisches Verhältnis getreten", 213), die einseitig
geratene Beschreibung der Stellung der Kirche zum asketischen
Ideal, bei der das Problem der Hochschätzung des mönchischen
Lebens abgeblendet ist (215). Unverständlich ist die
Behauptung, die behandelten Personengruppen hätten ihren
theologischen Hauptakzent vom Alten Testament und den Evangelien
auf die neutestamentlichen Lehrbriefe verschoben (210,
297). Ihr widersprechen die Quellen selbst, in denen die Nonkonformisten
sich z. B. zentral auf den Nachfolgeruf des synoptischen
Jesus berufen. Fraglich ist mir auch, ob die S. 170ff und
184ff wiedergegebenen Aussagen und Beobachtungen wirklich
auf eine missionarische Gesinnung im eigentlichen Sinne schließen
lassen oder nicht viel mehr auf eine Weitergabe der erkannten
Glaubensinhalte, wenn sich dazu die Gelegenheit bot.