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Ausgabe:

1992

Spalte:

854-856

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts 1992

Rezensent:

Heidrich, Peter

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 11

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den" kann (378). (Biersack macht einmal beiläufig auf parallele
theologische Probleme im zeitgenössischen Luthertum und im
Calvinismus aufmerksam, S. 18).

Diese Ergbnisse erhalten ihre historisch-theologische Spannung
zusätzlich durch den Aufweis Biersacks, daß Bellarmins
Via Augustini sich in den gleichen Wochen zu einer Via Augustini
moderata und damit zum „Kongruismus" wandelte, in
denen Wilhelm von Oranien im Spätsommer 1572 Löwen militärisch
bedrohte (vgl. S. 291-301), während bis dahin seine Theologie
eher dazu angetan war, das spanische Netz zu lockern, das
mit strengem Thomismus und dem Synergismus der gleichzeitigen
spanischen Theologie wie selbstverständlich verbunden war.
So erscheint Bellarmin wohl nicht als ein „Wolf im Schafspelz"
(- „die Wölfe saßen nicht im Jesuiten-Kolleg", S. 300), eher als
ein „Fuchs im Schafspelz", als Theologe, „der sich ... in der
jeweiligen politischen Situation zurechtfinden mußte", wobei
er allerdings seine Kritik am Protestantismus und dem verwandt
erscheinenden Bajanismus vorsichtiger ansetzt als am Pelagia-
nismus und seinen Spielarten.

Zu bemerken ist auch, daß Biersack interessante Seiten an
Bellarmins Biographie entdeckt, wo er seine Rolle im Streit um
Galilei analysiert (88f).

Die Arbeit, die methodisch klar disponiert vorgeht, eine Fülle
von Material verarbeitet hat, von hervorragendem Vermögen zu
kritischer Analyse zeugt und weite theologiegeschichtliche Perspektiven
von der Antike bis in die Neuzeit hinein in Darstellung
und Beurteilung einzubeziehen vermag, ist in Begleitung durch
Heiko Augustinus Oberman entstanden und hat 1980 der Theologischen
Fakultät Tübingen als Dissertation vorgelegen. Es ist
sehr zu begrüßen, daß es dank der vereinten Mühe ihres Autors
und ihres Redaktors Ernst-Dieter Hehl gelungen ist, sie - teilweise
stark gekürzt - zum Druck zu bringen, zumal da zu erwarten
ist, daß sie über das theologiegeschichtliche Interesse hinaus,
das sie erweckt, der Differenzierung des interkonfessionellen Gesprächs
nützlich sein wird, ein Vorzug, den sie mit nur wenigen
ähnlich gelagerten Arbeiten teilen dürfte.

Leipzig Ernst Koch

Chävez Alvarez, Fabio: „Die brennende Vernunft". Studien zur
Semantik der „rationalitas" bei Hildegard von Bingen. Stuttgart
-Bad Cannstatt: Frommann 1991. 282 S. gr.8 - Mystik in
Geschichte und Gegenwart. Abt. I: Christliche Mystik, 8. Lw.
DM 68,-.

Die vorliegende philosophische Dissertation der Katholischen
Universität Eichstätt wurde von der Hildegard-Forscherin Margot
Schmidt betreut und von Bernhard Schleißheimer (Philosophie
) und Ernst Reiter (Mittlere und Neue Kirchengeschichte)
begutachtet. In dem begriffsgeschichtlichen Teil I werden „Die
möglichen Quellen des Begriffes .rationalitas'" dargestellt; Teil
H, das eigentliche Kernstück der Arbeit, ist der „.Rationalitas'
bei Hildegard von Bingen" gewidmet; Teil III untersucht den
Teilaspekt „ Rationalitas und das Visio-Verständnis Hildegards".
Das Buch ist mit einem Sach- und Personenregister ausgestattet
.

„Rationalitas" ist nach Auffassung des Autors ein Schlüssel-
begriff im Werk Hildegards. Er bezeichnet das urbildliche „Vernunft
-Sein" Gottes und die abbildliche Teilhabe des Menschen
an der göttlichen Vernunft: „(...) Deus rationalitas illa est quae
nec initium nec finem habet, et per quam homo rationalis est;
(...)" (Epist. 112, zit. 139). Der Begriff umfaßt bei Hildegard sowohl
die ungeschaffene als auch die geschaffene Vernunft, während
er in der Tradition vor Hildegard nur für das Vermögen der
menschlichen Vernunft steht. Der Vf. arbeitet besonders die

Bedeutung der „ rationalitas" im Rahmen der trinitarischen Spekulation
heraus. Sie bezeichnet das sich selbt erkennende
„Wesen Gottes in seiner dreifaltigen dynamischen Unterschie-
denheit" (250). Die Vernunft des „deus operans" entfaltet sich in
der Schöpfung; in diesem Sinn benennt „rationalitas" auch das
schaffende Wort, den Logos; und schließlich umfaßt „rationalitas
" die die Einheit von Erkenntnis und Liebe wahrende inspirierende
und beseelende Fähigkeit des Geistes. Die „Auffassung
Hildegards, daß das Gemeinsame zwischen Gott, Engel und
Mensch .rationalitas' ist", erscheint als eine „Konsequenz ihres
trinitarischen Konzepts" (18). In der Anthropologie ist die „rationalitas
" die höchste geistige Kraft des Menschen. Sie befähigt
diesen zur Erkenntnis und Befolgung der Gebote Gottes und ist
daher auch die Tugend schlechthin. Die „operatio rationalitatis"
führt zur Einigung der menschlichen mit der göttlichen „rationalitas
", „eine wache und erleuchtende Einigung des Menschen mit
dem göttlichen Logos" (252).

Es gelingt dem Vf., das ganze System der Theologie Hildegards
am Leitfaden eines Begriffes darzustellen. Damit zeigt er eine beeindruckende
systematische Geschlossenheit in Hildegards Denken
auf. In diesem Rahmen erfährt der Leser viel von den Inhalten
der Spekulation Hildegards. Ein wichtiges Ergebnis des
begriffsgeschichtlichen Teils ist der Nachweis, daß Hildegard in
der Anwendung des Begriffs „rationalitas" auf Gott neue Wege
ging, während die Tradition für Gott „ ratio" gebraucht hatte.

Die Problematik der Arbeit liegt in der mangelnden expliziten
Reflexion des methodischen Vorgehens. Andeutungen hierzu findet
man an verschiedenen Stellen des Buches. Das Stichwort „ Semantik
" im Titel läßt an eine sprachwissenschaftliche Arbeit
denken, jedoch handelt es sich mehr um eine systematischtheologische
Interpretation von Hildegards Werk. Mit „Semantik
" will der Autor ausdrücken, daß er den Gebrauch des Begriffs
„rationalitas" in den verschiedenen theologischen Loci und die
daraus resultierende Bedeutungsvielfalt darstellen will. Er hat
sich dabei das weite Ziel gesteckt, den Einzelgebrauch des Begriffs
nicht nur aus dem konkreten Kontext, sondern im Rahmen
des gesamten Hildegard'schen Werkes zu deuten. Die sprachliche
Einzelanalyse im Sinn der Semantik bleibt allerdings eine Randerscheinung
gegenüber der systematischen Einordnung in das
vom Autor entworfene System der Theologie Hildegards, deren
Grundzüge im übrigen schon von der Einleitung an vorausgesetzt
werden. Stellen, die sich der vom Vf. gezeichneten Systematik
widersetzen, werden nivelliert. Daß es sich nicht vorrangig um
eine historisch-kritische Weiterführung der Hildegard-Forschung
handelt, wird schließlich deutlich im Schlußteil über die Visionen
Hildegards. Der Vf. deutet die Visionen als eine in wachem
Zustand erlebte „transzendente" Erfahrung plötzlicher klarer
Erkenntnis. Er übernimmt einerseits hinsichtlich der postulierten
„transzendenten" Herkunft der Erkenntnis die Selbstaussagen
Hildegards, ohne diese auf die sie bedingenden historischen
Kausalzusammenhänge hin zu hinterfragen. Andererseits drängt
er Elemente körperlich-sensitiven Erlebens in Hildegards Visionsberichten
weitestmöglich an den Rand, um die intellektuelle
, rein geistige Schau im Sinne der „rationalitas" hervorzuheben
.

Reutlingen Ulrich Bubenheimer

Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik. 1: Die
Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie
des 12. Jahrhunderts. München: Beck 1990. 414 S. m. 12
Abb. 8°. Lw. DM 78,-.

Hier legt der bekannte Emeritus für Deutsche Philologie und
langjährige Herausgeber der Zeitschrift für deutsches Altertum