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Ausgabe:

1992

Spalte:

58-60

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ricœur, Paul

Titel/Untertitel:

Die Fehlbarkeit des Menschen 1992

Rezensent:

Hildebrandt, Bernd

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 1

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zum Thema: Albrecht Ritsehl, Wilhelm Hermann und Karl Holl
werden als Theologen referiert, die in kritischer Auseinandersetzung
mit der Moderne einen Weg zwischen totaler Ablehnung
und totaler Akzeptanz gesucht haben. Das Begriffspaar Gesetz
und Evangelium erscheint dabei transformiert in die Begriffe
«Sittlichkeit und Religion" (6). Die drei Teile sind überschrieben
: „Christliche Religion als positiver Rahmen humanen
Selbstseins: Albrecht Ritsehl", „Christliche Religion als individuelles
Erleben humanen Selbstseins: Wilhelm Hermann" und
«Christliche Religion als kritische Konstitution humanen Selbstseins
: Karl Holl". Der Vf. versteht dies gewissermaßen als eine
Steigerung: Während bei Ritsehl den „unüberschaubar werdenden
gegensätzlichen individuellen und kollektiven Strebungen
ein transzendentaler, aber bewußtseinsmäßig identifizierbarer
Orientierungshorizont zugeordnet wird, in dem dann auch die
individuelle Erfüllung im sozial vermittelten Ort des Berufes gesucht
werden kann", wird bei Herrmann „im religiösen Erleben
diejenige Einheit von Individualität und Allgemeinheit" vergegenwärtigt
, „die sich auch noch jenseits des sozial nicht herstellbaren
sittlichen Netzes als tragfähig erweist "(216). Bei Karl Holl
schließlich macht sich die Theologie „ den Entwurf dessen, woran
s'e sich auslegt, zur eigenen Aufgabe" (6). Mit seinen Erörterungen
über den Gewissensbegriff hat er (so K.) „wichtige Beiträge
2ur Subjektivitätstheorie geliefert" (211). Ergebnis: Die Berufung
auf das Gesetz in der Form allgemein anerkannter Sittlichkeit
wird immer weniger möglich. Es bedarf einer weiteren
«Transformationsstufe" (7) von Gesetz und Evangelium. Das
Begriffspaar Sittlichkeit und Religion wird ersetzt durch „Selbstbewußtsein
und Glaubensgewißheit" (7). Damit ist K. bei seinem
e'gentlichen Thema. In der Interpretation von Luthers De servo
arbitrio, seiner Galatervorlesung und der Antinomerdisputation
w'rd eine Rekonstruktion der Lehre von Gesetz und Evangelium
m't «subjektivitätstheoretischen Kategorien" (243) vorgelegt.
Aufgabe ist „die theoretische Ausgestaltung einer Theologie, die
die Religion als Konstilutionsort individueller Subjektivität"
festhält (221). Das Gesetz wird beschrieben als „Bestimmtheit
zur Selbstbestimmung" (230). Gott bestimmt den Menschen
dazu, sein Leben „nach dem Muster von Selbstbestimmung und
das heißt nach dem Gesetz zu führen" (229). Demgegenüber tritt
Christus als das neue Selbst des Menschen auf, das im Glauben
angeschaut und angeeignet wird und das die „ Selbst-Vorausset-
Zungsaktivität des (vom Gesetz bestimmten) Bewußtseins" (243)
uberwindet. In einem letzten Abschnitt über „kirchliche Praxis
Ur,d gesellschaftliche Evolution" (277) sind Hinweise auf den
9esamtertrag des Buches zu erwarten: Da wird einerseits deut-
'ch, daß die Lehre von Gesetz und Evangelium kritische Ein-
''cke in die Herrschaftsstrukturen der modernen Gesellschaft
ermöglicht. Zweitens wird betont, daß „allein das Evangelium
dje Konstitution von Individualität nicht-repressiv vollbringt".

rittens wird eingeräumt, daß eine moderne Interpretation von
besetz und Evangelium keine allgemeine Sinngebung der Welt
'"tendieren kann, sondern „Konzentration auf Individualitätsgewinn
durch den Glauben in der Kirche" (279). Nur auf diesem
eg ist „die kirchliche Praxis von gesellschaftlicher Rückwir-
ung" (279). - Trotz dereingangs geäußerten Beschwernis ist dies
ein sehr anregendes Buch. Das gilt besonders auch im Blick auf
v'ele Details bei der Interpretation der vier Zeugen, Ritsehl, Hermann
, Holl und Luther. Für den Rez. offen bleibt die Frage, ob
arn Ende die Rechtfertigungslehre und die Lehre von Gesetz und
vangeljum nicht doch nur als Steinbruch benutzt werden, aus
t rn.ZUr Verallgemeinerung taugliche Gedanken für eine subjek-
Vltätstheoretische Deutung der modernen Gesellschaft gewonnen
werden. Gewiß, die christologischen Abschnitte im letzten
ei' des Buches wollen das Gegenteil besagen. Die Sprache aber
verrät etwas anderes und nährt den Zweifel. Oder anders: Es wird
nilr leichter, ein Werk als kirchliche Theologie zu akzeptieren.

wenn es auch eine kirchliche, d. h. eine von der Gemeinde nicht
allzuweit entfernte Sprache benutzt.

Werdau Friedrich Jacob

Ricceur, Paul: Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie
der Schuld, I. 2.Aufl. Freiburg-München: Alber 1989. S. 8.
Lw. DM 48,-.

Ricceur stellt sich in dieser philosophischen Anthropologie die
Aufgabe, durch das Schuldigsein des Menschen hindurch nach
dem „Urständ" des Menschen, inwiefern dieser das moralische
Übel ermöglicht, zu fragen. In drei Schritten entsprechend den
drei fundamentalen Lebensäußerungen des Menschen vollzieht
er diesen Rückgang. Er rekonstruiert auf diese Weise den Aufbau
des Personseins des Menschen und weist eine ursprüngliche konstitutionelle
Schwäche des Menschen als Ort der Fehlbarkeit auf.
Im Durchgang durch Erkennen, Wollen und Fühlen legt er diese
Disproportionalität aus.

Im Erkennen geht es um die transzendentale Reflexion über
das Objekt der Erkenntnis. Endliche Perspektive und Überschreiten
dieser in die Bedeutung (den Sinn) hinein markieren
eine erste Disproportion. Es ist die von Sinnlichkeit und Verstand
(Kant). Diese Disproportion ist aber schon synthetisiert,
wohlgemerkt im Objekt, und ermöglicht durch die transzendentale
Einbildungskraft.

Auch in der Analyse der Praxis resp. des Willens bilden die
Begriffe Perspektive, Sinn und Synthese den Leitfaden, um die
Realität des Menschen in stets lebensnäheren Vermittlungen als
eine immer reichere, vollere Dialektik erscheinen zu lassen. Das
praktische Äquivalent zur Perspektive faßt sich im Charakter des
Menschen zusammen. Denn er ist die urgegebene perspektivische
Ausrichtung unseres Motivationsfeldes, gleichsam die einmalige
Lebensformel eines jeden. Der dem Sinn äquivalente Pol
im Praktischen ist die Glückseligkeit als Horizont aller Orientierung
. Wiederum ist nach der Synthese gefragt. Sie ist das Personsein
des Menschen im Kantischen Sinn: als Zweck an sich selbst
(100). Konstituiert und d.h. vermittelt wird das Personsein
durch die Achtung. Wie durch die transzendentale Einbildungskraft
die Objektsynthese vollzogen wird, so geht aus der Achtung
die Synthese der Person als ethischen Objekts hervor (101).

Soll die Vernunft praktisch werden, d.h. das Wollen bestimmen
, so muß sie zur Triebfeder werden. Das leistet die Achtung.
Sie vereint Vernunft und Begehrungsvermögen. „In der Achtung
bin ich ein Untertan, der gehorcht, und ein Herrscher, der gebietet
; aber ich kann mir diese Lage nicht anders vorstellen denn als
eine doppelte Zugehörigkeit" (104) - nämlich zur Sinnwelt und
zur intelligiblen Welt. Diese doppelte Zugehörigkeit indes macht
die Zerbrechlichkeit des Menschen, die als solche noch nicht
jener von Kant behauptete ethische Dualismus, sondern dessen
Ermöglichung ist. aus.

Die im Erkennen und im Wollen sichtbar werdenden Disproportionen
erscheinen jeweils an etwas, nämlich zunächst an der
Objektivität des Dings (Bewußtsein) und dann an der Person als
Ideal meiner selbst (Selbstbewußtsein). Wo haben wir nun die
Disproportion für sich? Im Gefühl (111)! Gewiß, auch das
Gefühl besitzt eine intentionale Struktur, aber es enthüllt ebenso
die Weise, in welcher das Ich affiziert wird (113). „Das ist das
Paradox des Gefühls. Wie kann dasselbe Erleben einen Aspekt
der Sache und durch diesen Sachaspekt das Innerste eines Ich
kundtun, ausdrücken, enthüllen (115)." Deshalb, weil das Gefühl
unsere Beziehung zur Welt, die tiefer reicht als jede Polarität,
kundtut. Es bringt „die Dränge unseres Wesens und seine vor-
und über-objektiven Bindungen an das Seiende ... ans Licht
(116)."

Im Gegensatz zur Affektlehre der Stoiker und des Thomas, die