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Ausgabe:

1992

Spalte:

785-787

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Bolle, Rainer

Titel/Untertitel:

Religionspädagogik und Ethik in Preussen 1992

Rezensent:

Bloth, Peter C.

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 10

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Erfahrungsarmut überwindenden und Erfahrungsblockaden aufbrechenden
Kraft jener „poetischen Mittel der Fiktion, Verfremdung
, Extravaganz und der Grenz-Ausdrücke", die im Anschluß
an P. Ricceur der religiösen und bereits der poetischen Sprache
eigen ist (51) und zu einer „poetischen Didaktik" führt.

Der in der Religionspädagogik inzwischen verbreitete erfahrungsherme-
neutische Weg hat eine Vorform im Religionsunterricht als Auslegung im
Horizont „existentialer Interpretation" gehabt (M. Stallmann 1963). Hier
wie übrigens auch schon bei M. Rang (1939) ist ebenfalls auf menschliche
Grundsituationen und entsprechende Grunderfahrungen abgehoben worden
. B. tut es mit wichtigen Unterschieden. Wenn der Blick auf das
menschliche Leben zwischen Sehnsucht, Entfremdung und Erfüllung gelenkt
wird, um auf diesem Hintergrund die Bedeutung von Annahme und
Angenommenwerden im Zeichen der Rechtfertigungsbotschaft sowie von
Befreit-werden. Freiheit und Solidarität im Glauben zu erweisen, steht
immer auch konstitutiv und (ideologie-)kritisch die gesellschaftlich mitbedingte
Sclbstcntfremdung des Menschen vor Augen. Es geht um Grunderfahrungen
im Kontext von Alltagserfahrungen. Hierdurch bewahrt der Vf.
mit Recht den Anschluß an Einsichten der Pädagogik und Religionspädagogik
der 60er- und 70er Jahre, die im (von B. selbst mitentworfenen)
thematisch-problcmoricnticrten Religionsunterricht ihren Ausdruck gefunden
haben. Die Kontinuität zu jener religionspädagogischen Epoche
zeigt sich auch in der Unterscheidung zweier Zugänge (Weg A und B), die
an die seinerzeit entwickelten zwei didaktischen Grundtypen erinnern, auf
die korrigierend Bezug genommen wird (64f).

Die große Studie über das Bildungsproblem bietet besonders
durch die deutlichere Einführung der Rechtfertigungslehre eine
theologische Vertiefung des Gesamtansatzes. Mit E. Jüngel wird
herausgestellt, daß die Rechtfertigung des Menschen als „Person
" der Bildungsaufgabe des Menschen, ein „Subjekt" zu werden
, stets vorausliegt (156ff). Anders als in den früheren Studien
wird sodann auf drei religionspädagogischen Grundaufgaben abgehoben
, nicht nur auf eine, was angemessener ist, weil sonst andere
Aufgaben von grundlegendem Rang zu leicht aus dem Blick
geraten. Zu ihnen zählt heute auch die noch ausstehende umfassende
Bearbeitung der interreligiösen Pluralismusproblematik.
Indem Bildung als Erfahrungs- und Reflexionsprozeß verstanden
wird (vgl. Preul). schließt diese Studie genau an alle anderen an.
Der Mensch ist als „Gottes Ebenbild ein sprach-, erfahrungs- und
handlungsfähiges Wesen", „vor Gott verantwortlich" (197);
daher wird „.Bildung' als Gesprächs-, Erfahrungs- und Handlungsfähigkeit
" ausgelegt (128).

Die Studien Peter Biehls markieren einen beachtlichen Fortschritt
in der Klärung religionspädagogischer Grundlagenfragen
mit großer Bedeutung für die Praxis. Systematisch-theologische
Perspektiven und pädagogische Einsichten werden in ihnen in
einer für die neuere evangelische Religionspädagogik repräsentativen
Weise vorbildlich integriert.

Tübingen Karl Ernst Nipkow

Bolle, Rainer: Religionspädagogik und Ethik in Preußen. Eine
problemgeschichtliche Analyse der Religionspädagogik in
Volksschule und Lehrerausbildung in Preußen von der Preußischen
Reform bis zu den Stiehlschen Regulativen. Münster -
New York: Waxmann 1988. X, 440 S. 8° - Internationale
Hochschulschriften, 6. Kart. DM 69,90.

So erstaunlich es auch sein mag: die Fragen um Religion und
Unterricht in Preußen finden immer wieder neue Aufmerksamkeit
der Forschung. Diese Münstersche Dissertation beschäftigt
sich in ihrem systematischen wie historischen Schwerpunkt mit
der Zeit der Reformen seit 1806, für die hier sowohl die Hum-
holdtsche Bildungsreform (116-147) als auch - sehr knapp - die
Süvern/Natorpsche Elementarschulform (160-168) betrachtet
werden. Die im Untertitel genannte Zeit der oft beredeten und
meißt gehaßten 'Stielschen Regulative' von 1854 bildet, vom
Einstieg der Arbeit und ihrem ideellen Duktus her eingeschätzt,

im abschließenden Kapitel (362-387) nur mehr eine Art Negativfolie
, die bereits „in den Sog staatlich reaktionärer Sozialisations-
interessen" (387; vgl. 388) geraten sei. Dieses, dem seit zwölf
Jahrzehnten nahezu unentwegt durchgehaltenen Tenor der schulgeschichtlichen
Be/Verurteilung der reaktionären Regulative'
entsprechende Verdikt steht fast am Schluß des Buches; leider
gibt der Vf. keine Literatur zur Folgezeit mehr an. Daß in Preus-
sen auch noch nach den Regulativen', und zwar acht weitere
Jahrzehnte lang, Schul-, Religionsunterrichts- und Lehrerbildungs
-Geschichte geschrieben wurde, erfährt man nicht. Natürlich
, die Dissertation war, wie angegeben, begrenzt; aber die Problemstellung
des Verhältnisses von „Religionspädagogik und
Ethik", um die es dem Vf. eigentlich und durchaus neuartig geht,
hätte doch, nicht zulezt aus Gründen des in der Arbeit vorgelegten
und erschlossenen systematischen Materials, für alle drei genannten
Aspekte der weiteren Geschichte mindestens Hinweise
geboten. Denn „Religionspädagogik und Ethik" ist, wie noch und
gerade die jüngsten schulpolitischen Debatten in Deutschland
zeigen, bis heute ein zentrales Thema.

Nach dem Urteil des Vf.s sind es vor allem Kant (5-48) und, in
bezeichnender Abkehr von ihm, Schleiermacher (49-104) gewesen
, durch deren Denken das „theoretisch-systematische" Problem
des Verhältnisses von „Religion und Ethik" seine zeittypische
Durchdringung erfuhr. „Im Anschluß an Kant darf es keine
(christliche) Theologie mehr geben, die sich dem Anspruch des
ethischen Universalismus entzieht" (105). Kant habe auf diese
Weise zwar „die Eigenständigkeit der Religion mit der Begründung
seiner Ethik weitgehend beschnitten", aber eben „durch
den universalen Anspruch und formalen Charakter dieser Ethik"
entstehe bei ihm „die Möglichkeit und Notwendigkeit einer
eigenständigen Pädagogik". Schleiermachers Denken habe demgegenüber
in dialektischer „Vermittlung immer auch die relative
(historische) Berechtigung des Gegebenen" mit eingeschlossen;
es steht jedoch „immer dabei in Gefahr, das Bestehende zu legitimieren
" (106). Dennoch zielte Schleiermachers Interesse, wie
der Vf. an der Schrift „Über den Beruf des Staates zur Erziehung"
von 1814 zeigt, auf die „Beförderung einer neuen Einheit der
Sitte", in der die „einzelnen gesellschaftlichen Teilbereiche Staat,
Kirche, Wissenschaft und Geselliger Verkehr" zwar ihre „Berechtigung
und eigene Aufgabe" behalten, „aber ausschließlich in der
Verantwortung für das Ganze" (113).

Mit dieser systematischen Herleitung konkretisiert sich dem
Vf. das Problem „Religionspädagogik und Ethik" zur Frage nach
dem Verhältnis von „universalistischer" und „partikularer" ethischer
Ausrichtung des religionspädagogischen Handelns, und ihr
geht der große „historisch-systematische Teil" (115-390) in seinen
vier Kapiteln zwischen der ,Reform'-Zeit von 1806 und der
,Regulativ'-Zeit von 1854 nach. Besonders interessant ist es
dabei, erstmalig die vom Vf. sog. „Anfänge einer katholischen
Pädagogik" in Gestalt des Denkens und Handelns von Bernhard
Overberg (1754-1826) einbezogen zu sehen (169-237); ihm wird
übrigens ein „Ausblick auf die Nachfolgeentwicklung" eingeräumt
(235ff)- Bei diesem bedeutenden Lehrer und Lehrer-
Erzieher des Hochstifts Münster läßt sieht zwar „eine Wirkungsgeschichte
kantischer und schleiermacherscher Ideen mit
Sicherheit nicht erwarten" (169). Der Vf. meint aber wohl, hier
liege, was die Profilierung beider Prinzipien ethischer Ausrichtung
der Religionspädagogik angeht, das wertvolle Konzept eines
„linientreuen Katholiken, freilich keines Ultramontanisten" vor
(170). Dies Kapitel dürfte, zusammen mit dem über Franz Ludwig
Zahn (1798-1890), den Kottwitz-Schüler und späteren
Nachfolger Diesterwegs am Lehrerseminar Moers, im Blick auf
den Forschungsgewinn das wichtigste der Dissertation sein (310—
361).

In beiden Kapiteln, und das in klarem Gegensatz zum dazwischen
stehenden eben über Diesterweg (238-309), tritt deutlich