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Ausgabe:

1992

Spalte:

772-773

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Runggaldier, Edmund

Titel/Untertitel:

Analytische Sprachphilosophie 1992

Rezensent:

Engemann, Wilfried

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 10

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um deren zu entdeckende Konvergenz. Deshalb könnten einige
der Untersuchungen B.s, die in diesem Buch unter der Generalüberschrift
„Wissenschaftstheorie" stehen, ebenso gut unter der
Generalüberschrift „Hermeneutik" plaziert sein).

Um nun wenigstens an einem Beispiel noch näheren Einblick
in die Fülle und in die Art des von Bayer Gebotenen zu geben,
wähle ich die unter der Überschrift „Text und Selbstbewußtsein"
(19ff) gebotene, erhellende Interpretation der auf Johann Albrecht
Bengel zurückgehenden (und später der Nestle-Ausgabe
des griechischen Neuen Testaments vorangestellten) Sentenz:
„Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te". Mit diesem
Sinnspruch hat sich auch Hamann kritisch auseinandergesetzt
: „Bengel mache das Spätere zum Früheren. Die Sentenz sei
... gegen den Strich zu bürsten: 'Das erste muß das letzte'werden.
Auszugehen ist vom Text, nicht von dem sich dem Text zuwendenden
Selbst. Dieses wird dadurch, an die zweite Stelle verwiesen
, keineswegs bedeutungslos. Doch erhält nun nicht mehr der
Text im Selbst seinen Ort, sondern das Selbst im Text" (20) - Im
gleichen Aufsatz wird auch ein besonders eindrucksvolles Hamannzitat
mitgeteilt: Genie ist eine Dornenkrone und der Geschmack
ein Purpurmantel, der einen zerfleischten Rücken
deckt" (25).

Bei einem weiteren, mit „Bibliotherapie" überschriebenen
Essay (33ff), in dem auf den Psalm des yon schwerer Krankheit
genesenen Königs Hiskia (Jes 38, 10-19) Bezug genommen wird,
stellte sich mir folgende Frage: Nach Vers 15 hat Gott auf dem
Krankheitshöhepunkt Heilung versprochen - und dieses Versprechen
auch gehalten. B. interpretiert: „Hiskia wird durch heilenden
Zuspruch gesund" (38). Aber viele Leser werden empfinden
: Nicht unbedingt die Zusage Gottes hat den Hiskia der
tödlichen Krankheit entrissen. Nicht unbedingt muß man auslegen
: Das Wort hat ihn geheilt. Sondern: Gott hat an ihm gehandelt
, und durch sein heilendes Handeln hat Gott die gegebene Zusage
bewahrheitet. Die Frage der richtigen Auslegung und
'Hermeneutik' ist hier nicht so leicht zu entscheiden. Bayer jedenfalls
betont generell die lebensspendende und wahrheitseröff-
nende Macht des (göttlichen Schöpfer- und Verheißungs-)
Wortes. Besonders aufschlußreich expliziert ist im vorliegenden
Buch B.s vor allem von Luther her gewonnenes Wortverständnis
in einem Vergleich zwischen Schleiermacher und Luther (156ff)-
Bei Schleiermacher verdanke sich der Glaube nicht dem „unhin-
tergehbaren Wort", sondern es wurzele der sprachliche Ausdruck
des Gaubens in einem - angeblich noch ursprünglicheren - „Gefühl
schlechthinniger Abhängigkeit". „Für Luther ist die ßdes
creatura verbi, für Schleiermacher das verbum creatura fidei."
(I59J)

Besonders hinzuweisen ist noch auf die das Buch wie eine
Hauptlinie durchziehende Interpretation des Konflikts zwischen
Hamann und Kant, der von B. schon von Hamanns Kritik an
dem ,Cogito ergo sum' des Descartes her (Hamann sagt: [Deus]
.Est ergo cogito') aufgegriffen wird. Hamann will - allerdings auf
andere Weise als später Hegel - den Bruch zwischen Naturerkenntnis
und menschlicher SelbsterkenntnisAgewißheit, zwischen
,Erklären' und .Erzählen' vermeiden - und vermag dies
auch tatsächlich von seinem biblischen Ansatz her. Hegel indessen
versuchte später eine (wirkungsgeschichtlich verhängnisvoll
gewordene) rationale Totalvermittlung, deren innere Unmöglichkeit
B. gerade nach Hamann zurückfragen läßt. „Die im vorliegenden
Buch versammelten Texte wollen nicht zuletzt Hegels
Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte revidieren
und seinem Versuch einer Totalvermittlung widersprechen
." (5)

Berlin Christof Gestrich

Runggaldier, Edmund: Analytische Sprachphilosophie. Stuttgart
-Berlin-Köln: Kohlhammer 1990. 192 S. kl. 8° - Urban
Taschenbücher, 395. Grundkurs Philosophie, 11. Kart. DM

22,-.

1. „Grundkurse" zu erstellen, wie sie vom Verlag W. Kohlhammer
in dankenswerter Kontinuität besorgt werden, ist für die Vff.
eine immer etwas asketische Aufgabe. Denn die Leistung der
kleinen Kompendien, sowohl Einsteigern als auch wie an Repeti-
torien Interessierten das Wesentliche in systematisierter Form
zusammenzustellen, wird in der Regel um den Preis erbracht,
daß der Autor zu einem erheblichen Teil fremde Erkenntnisse dokumentiert
und eigene, spezielle Untersuchungen zugunsten
einer Gesamtschau des Forschungsstandes nur unter anderen
einbezieht. Dennoch gewinnt ein solcher „Grundkurs", wenn es
dem Vf. gelingt, die Erkenntnisse und Verfahrensweisen eines
Wissenschaftszweiges von einer eigenen, abgrenzbaren Position
aus zur Sprache zu bringen, den zu behandelnden Stoff also nicht
nur angemessen zu reproduzieren, sondern ihn auch anzuwenden
und gewissermaßen in seiner Wirkung vorzuführen.

Dies ist Edmund Runggaldier mit seiner „Analytischen
Sprachphilosophie" insofern gelungen, als er von den Prämissen
der „Sprechakttheorie her versucht, die wesentlichen loci der
Analytischen Sprachphilosophie zu definieren. Und zwar nicht
nur in dem ausdrücklich den „Sprechhandlungen" gewidmeten
Teil C, sondern auch in der Einschätzung grundlegender sprachphilosophischer
Probleme (Teil A; vgl. 9, 24 u. ö.), in der funktionellen
Bestimmung der Semantik und Pragmatik (B; vgl. 39f-
u. ö.) und in der Abhandlung des Teiles „Sätze und Aussagen" (E;
vgl. 140-146). Teil D, „Terme/Termini", bietet einen in sich geschlossenen
semantischen Grundkurs, der stark an den erkenntnistheoretischen
und sprachphilosophischen Arbeiten Willard v.
O. Quines orientiert ist. Daß die einzelnen Teile des Buches so
konzipiert sind, daß die Lesbarkeit/Verständlichkeit des einen
nicht unbedingt die Lektüre des vorangehenden voraussetzt, ist
ein besonderer Vorzug dieser Schrift.

2. Sympathisch an diesem Buch ist, daß sein Vf. die mit solch
einem Ansatz verbundenen Einschränkungen nicht bestreitet.
Freilich reicht eine solche Ehrlichkeit denn doch nicht aus, ein
gewisses Erklärungsdefizit wettzumachen: Denn wenn R. voranstellt
, im weiteren nur das berücksichtigen zu wollen, was nach
seiner Ansicht dazu taugt, „sich mit den grundlegenden sprachphilosophischen
Positionen auseinanderzusetzen" (9), erwartet
der Leser wohl zu Recht, daß etwas zur ,Untauglichkeit' jener
Entwürfe bemerkt werden müßte, deren Autoren ihrerseits
Grundlegendes zu den Problemen der Analytischen Sprachphilosophie
gesagt zu haben meinen. In dieser Hinsicht wird er jedoch
enttäuscht.

Aber es versteht sich ja keineswegs von selbst, den Prämissen
R.s zu folgen: Das betrifft vor allem den wiederholten Rekurs auf
die vermeintliche Notwendigkeit, bei der Frage nach der Bedeutung
eines sprachlichen Zeichens auf die Intention der jeweiligen
Sprecher zurückgreifen zu müssen (19, 24, 27 u.ö.). Dieser Sen-
der-orientierte Ansatz zur Erklärung der Modalitäten für das Zustandekommen
von „Bedeutung" birgt weitaus mehr Probleme,
als Runggaldier zugesteht. Es gibt z. B. eine Fülle sprachanalytisch
relevanter Phänomene, in denen es zum Verstehen, zur Interpretation
bzw. Bildung sprachlicher Zeichen kommt, auch
ohne und unabhängig von postulierbaren Absichten eines Zeichengebers
. Aus der Sprachpsychologie wissen wir, daß eine sehr
hohe Zahl sprachlicher Äußerungen anders verstanden werden
als sie gemeint waren, daß Bedeutungen entstehen (wirken und in
Handlungen übergehen), ohne daß sie intendiert wären, und
ohne daß sie einen extensionalen Referenten haben oder brauchen
. Sollen diese Prozesse sprachphilosophisch nur deshalb irrelevant
sein, weil ihre Verifizierbarkeit auf dem Spiel steht (144
u.ö.)?