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Ausgabe:

1992

Spalte:

50-51

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Obst, Helmut

Titel/Untertitel:

Außerkirchliche religiöse Protestbewegungen der Neuzeit 1992

Rezensent:

Grote, Heiner

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 1

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von Preußen und dem Einfluß der französischen Aufklärung und
in der Neologie dargestellt (Kapitel 4-9). Das Hauptthema der
deutschen Aufklärungstheologie, die Frage nach dem Verhältnis
von Offenbarung und Vernunft, gibt die Orientierung angesichts
der Fülle von Personen und Gedanken in diesem Kreis von Theo-
'ogen, zu dem vor allem J. J. Spalding, A. F. W. Sack, J. F. W.
Jerusalem, J. G. Toellner, J. A. Eberhard und W. A. Teller gehören
. Teller, der sich vom Rationalismus zum Spiritualismus weiterentwickelt
, wird zu den radikalen Neologen gerechnet, er hatte
eine starke Affinität zu anderen radikalen Neologen wie J. H.
Schulz und K. F. Bahrdt. Das ausführliche Kapitel über die Neologie
berichtet auch über den Abendmahlsstreit um Chr. A. Heumann
und über die Kontroverse um Wert und Geltung der Bekenntnisschriften
sowie Fr. Nicolais „Allgemeine Deutsche
Bibliothek". Ein Exkurs berührt Gesangbücher und den Gottesdienst
im Zeitalter der Neologie.

!n einem eigenen Kapitel wird J. S. Semler dargestellt, den man
nur mit Vorbehalten einen „Neologen" nennen könne, da für ihn
die für die Neologie charakteristische Reduzierung der Offenbarungsinhalte
und ihrer Ersetzung durch Vernunftinhalte nicht zu-
trifTt < 116).

In der Gestalt Lessings sieht Gericke die deutsche Aufklärung
äff ihrem Höhepunkt. Auf die verschiedenen geistesgeschicht-
'ichen Linien, die zu ihm hinführen, hat er schon mehrfach hingewiesen
(Kapitel 11). Über Kants Stellung zum Glauben und
das Ende der Aufklärung bei J. G. Hamann und J. G. Herder und
dem Zerfall der Spannung zwischen Vernunft und Offenbarung
ln die beiden getrennten Richtungen des Rationalismus und
Supranaturalismus endet diese Darstellung über Theologie und
K'rche im Zeitalter der Aufklärung (Kapitel 11-13).

Der inhaltliche Überblick hat schon gezeigt, daß der Vf. eine
dichte, konzeptionell sinnvolle und auf manche neue Aspekte
Ur>d geistesgeschichtliche Traditionsketten hinweisenden Arbeit
vorlegt, die in der Fülle ihrer Mitteilungen zudem gut lesbar ist.
Einige kritische Anfragen habe ich dennoch, die sich vermutlich
aus der Einordnung in diese Reihe ergeben, aber damit doch auch
"'cht ganz erklärt werden können. Der Vf. sagt in seinem Vorwort
, daß nach der intensiven Betonung sozialgeschichtlicher
Fragestellungen die Aufarbeitung des theologiegeschichtlichen
Kontextes neuerlich wieder verstärktes Interesse erfährt. Diese
erspektive will die vorliegende Darstellung in den Mittelpunkt
J'ucken., Aber tut sie es nicht doch zu einseitig? Ist die Aufklärung
'er nicht wieder ein vorwiegend geistiger Prozeß, bei dem die
w'rtschafts-, sozial- und mentalitätsgcschichtlichen Umwälzungen
im 17 un(j i g jn zu Wenig berücksichtigt sind? Damit hängt
er geringe Stellenwert der Ereignisgeschichte zusammen, z.B.
as so wichtige Wöllnersche Religionsedikt wird nur ganz kurz
gestreift (120). Mein Haupteinwand: Die kirchliche Aufklärung
°rnrnt zu kurz, fast alle hier behandelten Theologen waren beerende
Prediger, meist im kirchenlcitenden Amt. Müßte eine
solche Darstellung nicht vor allem die Predigt der deutschen Auf-
arung ins Zentrum rücken? Rein theologiegeschichtlich vermisse
ich stark die Beziehungen zum Pietismus. Gewiß ist dies
em vorangehenden Band vorbehalten, aber immer wieder muß
er Vf. auf jnn hinweisen (bei Chr. Thomasius, Baumgarten,
emier, Hamann), ohne daß die mannigfaltigen Bezüge zwischen
■etismus und Aufklärung in Deutschland sichtbar würden,
k ann man eine Darstellung über die deutsche Aufklärung schrei-
n. ohne Spener zu nennen? Auch zum ersten Kapitel über die
. °rgeschichte des Problems „Offenbarung und Vernunft" habe
nieine Fragen: Bei dem interessanten Aufweis der geistes-
g^schichtlichen Linien stellt sich die Frage nach den Zäsuren:
as heißt „Zentralproblem der mittelalterlichen und der ihrzeit-
lch folgenden Theologie" (23)? Und nach vorn: gehört Schleier-
wacher wirklich nur in die Theologiegeschichte des 19., nicht
auch in die des 18. Jh.s (131)? Solche Fragen wollen freilich den

Wert dieses Buches nicht schmälern; die Herausforderung ist an
einer Darstellung orientiert, deren Lektüre sich außerordentlich
lohnt.

Neuendettelsau Wolfgang Sommer

Obst, Helmut: Außerkirchliche religiöse Protestbewegungen der
Neuzeit. Berlin: Evang. Verlagsanstalt 1990. 119 S. gr. 8 = Kirchengeschichte
in Einzeldarstellungen, III, 4.

Der neue Band in der mittlerweile im Handel etablierten und
von der Fachwelt sehr geschätzten Reihe besteht aus zwanzig
Einzelstudien, einer kirchengeschichtlichen Hinführung und
einer systematischen Auswertung. Hinzu kommen ein Register
und gleich zu Beginn ein hervorragendes Literaturverzeichnis,
das trotz der streng gebotenen Auswahl sogar Rarissima benennt,
wenn sie denn von einschlägiger Bedeutung sind. Daß dies alles
auf so wenige Seiten gebracht wurde, ist das Ergebnis solidester
Kenntnisse und eines gediegenen Vermögens zur Zusammenfassung
. Die Einzelstudien präsentieren sich in nicht mehr überbietbarer
lexikographischer Dichte und Ausgefeiltheit. Jede der hier
beschriebenen Sondergemeinschaften geht in ihren Anfängen zurück
auf die Zeit vordem ersten Weltkrieg. Es sind alle bekannten
darunter, aber auch drei nur in Ostdeutschland vertretene wie
Hirt und Herde, die Lorenzianer und die Weißenberger.

Schon lange und allgemein gilt der Ausdruck „Sekte" als obsolet
, als die nur zu leicht durchschaubare Diskriminierung einer
Minderheit durch eine Mehrheit: „Sektierer" sind entweder verrückt
oder verrucht, wenn nicht beides. Obst geht an die Darstellung
mit einem sehr wachen Gespür für verhängnisvolle Irrtümer
und uneingestandene Abweichungen der Christenheit in Großkirche
und Gesamtgesellschaft heran und gelangt von daher zu
dem Leit- und Sammelbegriff „Protestbewegungen". Er fügt ihm
Eigenschaftswörter bei, die den Beschriebenen ärgerlich genug
sein müssen, denn sie empfinden sich als die eigentliche Kirche
(und eben nicht als „außerkirchlich") und als schlechthin christlich
(„religiös" mag die von ihnen so genannte Babelkirche mitunter
sein).

Der Vf. liefert in Auftakt und Ausklang einen anregenden und
wichtigen Beitrag für die weitere Debatte. Auf die Kategorien
von aufbrechendem Protest und oft lange verweigerter Toleranz
wird fortan nicht mehr zu verzichten sein. Doch einen einzigen
Rahmen für das Beobachten und Beschreiben zu finden, ist wohl
kaum möglich. Zu verschieden sind die Beweggründe. Bis zu welcher
Stelle läßt sich Abkapselung noch als Protest verstehen?
Amerika brachte nicht nur Refugium (20), sondern auch Splendid
Isolation. Die Neue Welt erzwang den Verzicht auf bisherige
Plausibilitäten und Evidenzen; verarbeitet wurde das in der
Überzeugung, daß der erfolgte Bruch mit einer schon lange währenden
Brüchigkeit zusammenhing. Mit missionarischem Impetus
wurde diese Erkenntnis rückübermittelt in die Alte Welt. Hier
wie dort traten heftige Ängste zutage; Angstbeschwörungs- und
-linderungsrituale fanden nicht wenige Anhänger. Hektische soziale
und politische Entwicklungen suggerierten, man stehe vor
der Alternative: entweder Entkirchlichung oder aber Gang zur
besonderen Gruppe - zur eigentlichen und bleibenden Heimat,
wie es dann hieß. Da war und ist dann wieder Vertrautheit und
Gemeinschaft, Großfamilie und Neudorf ; da begegnen die Stammesältesten
- leibhaftig kann man sie begrüßen oder in gepflegter
Erinnerung verehren; eine bewunderte Macht ist in ihnen gegenwärtig
- nicht selten auch in Gestalt einer Frau.

Daß all dies auch mit Schuldscheinen der Theologie und Verkündigung
zusammenhängt, daß es Mangelerscheinungen der
Kirche bewußt machen und die Suche nach Besserung veranlassen
muß, steht außer Frage. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland
, wo ein Rückstau verarbeitet sein will. Diese Arbeit