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Ausgabe:

1992

Spalte:

701-703

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Tacke, Helmut

Titel/Untertitel:

Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden 1992

Rezensent:

Möller, Christian

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 9

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dein erhellt und verdeutlicht, „das sich von vielen, meist latenten
Ausgrenzungsmechanisnien der Kirche abgesetzt" (14); auch
dieser Beitrag mutig, nachdenklich und konstruktiv.

Jedem Beitrag ist ein sorgfältig erarbeitetes Verzeichnis der
Quellen und weiterführender Literatur beigegeben, was den
Band zu einem echten Arbeitsbuch macht.

Grcifswald Günther Kchnschcrpcr

Tacke, Helmut: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden. Beiträge
zu einer bibelorientierten Seelsorge. Neukirchen-Vluyn:
Neukirchener 1989. 272 S. 8 . Pb. DM 34,-.

Helmut Tacke ist in der Seelsorgediskussion der zurückliegenden
15 Jahre weithin bekannt geworden durch sein 1975 erschienenes
Buch „Glaubenshilfe als Lebenshilfe", das einen völlig
eigenständigen und theologisch höchst differenzierten Einspruch
gegenüber der aus den USA und den Niederlanden importierten
Seelsorgebewcgung erhob. Was Tacke, damals Predigerseminardirektor
in Wuppertal, an der therapeutischen Seclsorge so zornig
nachte, war die Expertokratie der Supcrvisoren und ihr Anspruch
, das Geschehen von Seelsorge methodisch und fachlich zu
beherrschen. Dieser Machtanspruch hatte ja zur Folge, daß die
Gemeinde mit ihren oft sehr unscheinbaren und doch höchst wirkungsvollen
seelsorglichen Charismen abqualifiziert und an den
Rand gedrängt war. Nachdem sich auch die Kirchenleitungen
diesem Machtanspruch beugten oder von ihm überrollt wurden,
geriet auch die kirchliche Seelsorgeausbildung in den Predtgerse-
niinaren u a. weithin in die Hände der Supervisoren, so daß die
therapeutische Seelsorge die fast ausschließlich herrschende
Richtung kirchlicher Seclsorge wurde. Dabei sah Tacke, ganz im
Gegensatz zur evangelikalcn Verdammung der Gruppendyna-
nik, daß kirchliche Seelsorge von der Psychotherapie zu lernen
habe, partnerzentriert zuzuhören und Seelsorge nicht als Verkündigung
, sondern als Gespräch einzuüben. Was Tacke jedoch zum
Einspruch trieb, war die Ausschließlichkeit, mit der Seelsorge als
«Psychotherapie im kirchlichen Kontext" (D. Stollbcrg) verstanden
wurde. Dieser unheilvollen Vermischung von Seelsorge und
Psychotherapie galt Tackes Protest, weil in ihr das Geschehen der
Rechtfe rtigung des Gottlosen zu kurz kommt und die Sprache
der Bibel mit ihrer seelsorglichen Kraft nahezu verstummt.

War das 1975 erschienene Buch auf weiten Strecken noch polemisch
, so sind die jetzt veröffentlichten „Beiträge zu einer bibel-
0rientierten Seelsorge" von einem versöhnlichen Geist geprägt.
Es ist zu spüren, daß Tacke, nachdem er 1977 das Predigerseminar
in Wuppertal verließ und in ein Auslandspfarramt nach London
ging, Abstand zur deutschen Seelsorgeszene gewann und abgeklärter
zu seiner eigenen Stimme fand. Zwar gibt es auch in
diesem Buch noch „Abgrenzung" (105-152). Sie gilt aber nicht
nur der therapeutischen sondern auch der kerygmatischen Seel-
s°rge. Was Tacke nach wie vor der „Pastoralpsychoiogie" vor-
w'rft, ist die Ausschließlichkeit ihres Selbstverständnisses, die zu
dem Eindruck führt, daß Seelsorge ohne psychotherapeutische
Ambitionen per se minderen Ranges sei. Das hat auf der einen
Seite die Flucht von Theologie in die Rolle des Minitherapeuten
2ur Folge, auf der anderen Seite ein Übergehen der Gemeinde
mit ihrer seelsorglichen Kompetenz. „Abgrenzung" wird aber
auch gegenüber einer allzu pauschalen evangelikalcn Verdammung
der Gruppendynamik vorgenommen, während Tacke zu
bedenken gibt, daß es im kirchlichen Raum, zumal in pietisti-
Schcn Gebetskreisen, immer schon Gruppendynamik gegeben
U|be und gibt, ohne daß dagegen Einwände erhoben wurden,
^ehlimm werde es erst, wenn Gruppe und Gemeinde, Gruppen-
Dynamik und Gemeindedynamik in einen Topf geworfen würben
. Gruppendynamik habe in der Selbsterfahrung ihr Ziel, Gemeindedynamik
in der Christuserfahrung; Gruppe sei interpersonalen
Ursprungs, Gemeinde als „Gemeinschaft der Heiligen"
verdanke sich dem Heiligen Geist, der trinitarischen Ursprungs
sei (149).

Gegenüber Thurneysen stellt Tacke die Frage, ob er nicht im
Bereich des Psychischen und des Psychologischen die kleinen
Sorgen der Seele zugunsten einer allzu steilen evangelischen Seelsorge
abgewertet habe: „Es besteht die Gefahr, daß bei verabsolutierter
Betonung des extra nos das in nobis vernachlässigt wird,
daß vor den großen Taten Gottes die kleinen Taten, die Ängste
und Hoffnungen der menschlichen Seele verstummen. Aber eine
vergessene Seele, mag der theologische Horizont noch so groß
und weit sein, wird zu einer armen Seele." (197). Tacke plädiert
für ein kontrapunktisches Musizieren von kerygmatischer und
therapeutischer Seelsorge.

Woher will Tacke aber die Noten für so ein gemeinsames Musizieren
nehmen? Er findet sie in der Bibel, die für ihn ein Buch
voller Seelsorge ist. Um es mit Tackes eigenen Worten präziser zu
sagen: „Ich bin auf der Suche nach einer ,poimenischen Hermeneutik
' der Bibel" (40). Was Tacke von fundamentalistischen Bemühungen
um eine biblische Seelsorge im evangelikaren Raum
unterscheidet, ist ein kritischer Umgang mit der Bibel. Es geht
ihm nicht um die „ Heilige Schrift" als ein unfehlbares Buch, dem
Weisungen für die Seelsorge zu entnehmen sind. Es kommt ihm
vielmehr auf unmittelbare Erfahrung der Bibel mit Liebe und
Haß an. Es geht ihm um die ursprüngliche Kraft der Bibel als lebendige
Sprache, zu Worte gekommen im Dialog angefochtener
und getrösteter Menschen. „Das Kernelement der Bibel ist nicht
Buchstabe, sondern Beziehung." (57) Deshalb ist Tacke auch weniger
an den Goldenen Worten oder an den vorbildlichen Gestalten
der Bibel interessiert, sondern an den Verheißungen Gottes,
die sich noch nicht erfüllt haben, an den gebrochenen Gestalten
der Bibel, an den offenen Rändern der Bibel. Dort sucht er nach
dem Wort der Bibel, das „vermischungsfähig und vermischungswillig
mit unserem Wort" (62f) ist.

Deshalb ist für Tacke etwa der Hebräerbrief als seelsorgliches
Dokument wichtig, weil er von den Glaubenszeugen handelt, die
„ nicht ohne uns vollendet werden sollen "(11,40). Die Propheten
wie etwa Jesaja oder Jeremia sind Tacke wichtig, weil sie in ihre
Anfechtung hinein die Seelsorge Gottes vernommen haben. Vor
allem sind die Psalmen für Tacke wichtig, besonders die Klagepsalmen
, weil sie in einzigartiger Weise die Tiefe des menschlichen
Elends zur Sprache bringen, durch die Depressive u. a. hindurch
müssen. Diese und viele andere Texte der Bibel entdeckt
Tacke als einen Sprachraum, in dem die Seufzer der Müden und
die Notsignale der Hilflosen nicht verschluckt, sondern klar artikuliert
hörbar werden. (Es ist sehr schade, daß diesem Buch nicht
noch ein Bibelstellenregister hinzugefügt wurde!)

Bibelorientierte Seelsorge heißt bei Tacke also nicht, die biblische
Botschaft „auszurichten" oder auf den Kopf zuzusagen,
sondern sie mischfähig in das Seelsorgegespräch einzubringen.
Dann kommt Überraschung in das Gespräch hinein, vielleicht
auch Nachdenklichkeit oder Verfremdung, vielleicht auch Dissonanz
. Doch so fragt der Musiker Tacke, was wäre Musik ohne
Dissonanzen?! So langweilig eine bloß harmonische Musik ist, so
wenig ist von Seelsorgegesprächen zu halten, die nur glatt aufgehen
.

Tackes Bemühung um die Bibel als einem Buch voller Seclsorge
ist am ehesten mit Ingo Baidermanns Versuchen im religionspädagogischen
Raum zu vergleichen, die „Bibel als Buch
des Lernens" zu entdecken und die Probleme der Kinder gerade
dadurch zu erhellen, daß ihnen etwa in den Psalmen ein Sprachraum
eröffnet wird, in dem sie sich mit ihrem Weinen verstanden
fühlen können. Wie für Baldermann von der Bibel her die Alternative
von biblischem und problemorientiertem Unterricht
überholt ist, so kann auch Tacke die poimenischen Fronten ;iwi-