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Ausgabe: | 1992 |
Spalte: | 46-47 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Reformationszeit |
Autor/Hrsg.: | Seidemann, Johann Karl |
Titel/Untertitel: | Kleine Geschichten zur Reformationsgeschichte (1842-1880) ; 1.Thomas Müntzer und der Bauernkrieg 1992 |
Rezensent: | Bräuer, Siegfried |
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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 1
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Goertz, Hans-Jürgen: Thomas Müntzer. Mystiker - Apokalypti-
ker - Revolutionär. München: Beck 1989. 215 S. m. 24 Abb. 8°
geb. DM 34,-.
Die Situation der Entstehungszeit des Buches, auf die sich der
Vf. bezieht - der Gegensatz von marxistischer Müntzerdeutung
m der DDR und bürgerlicher „hierzulande" - , besteht so zwar
nicht mehr, und auch die in den marxistischen „Thesen über
Thomas Müntzer" (1988) erkennbare Tendenz, die Gedankenwelt
und Handlungsmöglichkeit des „Revolutionärs" Müntzer
m den Bereich des Utopischen zu verweisen, wurde vom Vf. noch
nicht berücksichtigt. Dennoch ist der hier vorgelegte „biographische
Versuch" (7; „Versuch", da angesichts der sehr lückenhaften
Quellenlage vieles Vermutung bleiben muß) insofern der Beachtung
wert, als der Hamburger Sozialhistoriker sich um eine
■ntegricrende Interpretation vor allem des Zusammenhangs zwischen
Müntzers Theologie und seiner revolutionären Aktivität
bemüht.
Goertz bleibt bei seiner schon 1967 vertretenen, inzwischen
kontrovers diskutierten Grundauffassung von Müntzer als „ Mystiker
", betont aber, daß Müntzer kein„ besonders treuer Schüler
der mittelalterlichen Mystik" war (164). Den apokalyptischen
Elementen seiner Theologie mißt der Vf. keine selbständige Bedeutung
bei, sondern sieht sie als Ausdruck des Ernstes der Situation
einer geistvergessenen Christenheit. Unter dem Druck der
Ereignisse 1524/25 habe Müntzer dann seine Argumentation
verändert: statt sich noch weiter „innerlich für eine Veränderung
der Welt zu rüsten", habe es gegolten, eine Einkehr und Glauben
ermöglichende Umgestaltung der äußeren Verhältnisse herbeizuführen
(149). Signifikant ist Goertz' Beschreibung von Bedingungen
, unter denen Müntzer sein „Programm" hätte durchset-
Zen können: ein Ort, an dem „der Widerstand gegen die
Deformation schon gebrochen sein" müßte, eine „reformgesinnte
Geistlichkeit", die „dem eigenwilligen Reformator das
Feld zu überlassen", und eine Obrigkeit, die „kirchliche Neuerungen
zu dulden oder sogar zu fördern" bereit gewesen wäre
(88).
Daß das Buch im Hinblick auf biographische Details kaum
Neues zu bieten vermag, versteht sich angesichts der auf die sehr
begrenzte Quellenbasis gerichteten vielfältigen Forschungsaktivität
der jüngsten Zeit fast von selbst. Wo biographisch nichts
Gewisses auszumachen ist, bietet sich - wie auch sonst in der
Müntzerliteratur - das Genus der Situations- und Milieuschilde-
rung und das der biographischen Vermutung an, die vom Vf.
auch stets als solche gekennzeichnet wurde und vor allem dem
Kriterium der Plausibilität unterliegt. Dem Vf. ist eine im Hinblick
auf Problemformulierung und Forschungsstand informa-
,lve, gut lesbare Darstellung gelungen. Manche Urteile und auch
die historiographische Einordnung des Wirkens Müntzers geben
allerdings Anlaß zu Rückfragen. Zweifellos zutreffend stellt der
'■ für Müntzers Deutung der Zeit fest: „ Der Heilsprozeß wurde
zum Weltprozeß,... Der revolutionäre Umsturz war religiös ge-
oten" (177). Aber ist es richtig gesehen, wenn der Vf. schon für
das 16. Jh. „den Emanzipationsprozeß der abendländischen Gesellschaft
von ihrem christlichen Ursprung" konstatieren zu
•Bussen meint und aus diesem Grunde für Müntzer zu dem Urteil
gelangt, mit seinem „theologischen Impuls der revolutionären
ewegung" sei er „auch schon wieder gegen den Strom" geschwommen
, und eben deshalb sei es „problematisch, Müntzer
^•ndeutig mit der progressiven Tradition der gesellschaftlichen
Entwicklung zu identifizieren" (1770? Der Vf. distanziert sich
m't der letztzitierten Problemanzeige von „der marxistischen
eschichtsschreibung" (aber s.o.!), mutet dem Leser aber das in
er Tat höchst problematische Urteil zu, eine „theologisch" geigte
Sicht der Zeit sei schon im 16. Jh. obsolet gewesen. Das
°envältigende Zeugnis der Quellen spricht eine ganz andere
Sprache. Man verkennt die unerhörte Brisanz der Auseinandersetzungen
der Zeit, wenn man das Ringen um die Wahrheit und
den Weg des christlichen Glaubens nur noch als Nachhutsgefecht
wertet.
Berlin Rudolf Mau
Seidemann, Johann Karl: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte
(1842-1880). Mit einer Vorbemerkung und unter Ergänzung
zahlreicher Quellenangaben hg. von E. Koch. I: Thomas
Müntzer und der Bauernkrieg (1842-1878). Leipzig:
Zentralantiquariat 1990. VII, 481 S. 8°
„... noch lange wird sein Andenken in Ehren bleiben" - die
Voraussage Theodor Briegers über den sächsischen Dorfpfarrer
Johann Karl Seidemann war nicht in den Wind gesprochen (Th.
Brieger: Über die Aufgabe einer sächs. Reformationsgeschichte.
Beitr. z. sächs. Kirchengesch. H. 5, 1890, 161). Theodor Kolde
würdigte ihn in der RE als „Begründer der modernen Lutherforschung
." Heinrich Boehmer wies in seinen Müntzerstudien auf
Seidemanns „heute noch nicht überholte Monographie über
Müntzer" hin. Franz Lau stellte in seinen Vorlesungen den enormen
Fleiß und den archivalischen Spürsinn Seidemanns den Studenten
als Vorbild eines wissenschaftlich arbeitenden Pfarrers
vor Augen. - Im Detail sind Seidemanns durchweg aus den Quellen
gearbeiteten Untersuchungen zur Reformationsgeschichte
noch heute nicht ersetzt, wenngleich bei seinen Urteilen die Prägung
durch seine Zeit nicht zu übersehen ist. Die Erforschung der
Reformation, zumal der sächsischen Reformation, kann auf Seidemanns
quellengesättigte Beiträge noch längst nicht verzichten.
Der Schwierigkeit, daß sie wegen ihres Alters und der Ausleihbeschränkungen
der Bibliotheken nicht immer leicht zugänglich
sind, wird mit derauf drei Bde. angelegten Reprintausgabe abgeholfen
. Die Betreuung hat in bewährter Weise (vgl. die Reprintausgabe
der Kleinen Schriften Otto Clemens) der Leipziger Kirchenhistoriker
Ernst Koch übernommen.
Der vorliegende 1. Bd. enthält Seidemanns Müntzerbiographie
von 1842, in der erstmalig der größte Teil von Müntzers schriftlichem
Nachlaß gedruckt wurde (1-171), die Akademieabhandlung
„Die Unruhen im Erzgebirge während des deutschen
Bauernkrieges" (173-232), die „Beiträge zur Geschichte des
Bauernkriegs in Thüringen", vorwiegend Quellenveröffentlichungen
über die Unruhen in Mühlhausen und Langensalza
(233-296), das wichtige Personenverzeichnis (einschließlich der
in der Schlacht Umgekommenen) mit Besitzangaben: „ Frankenhausens
Einwohnerschaft am Schlachttage 15. Mai 1525" (297-
310) und die umfangreiche Untersuchung „Das Ende des
Bauernkriegs in Thüringen" (312-464), in der erstmalig und
methodisch zukunftsweisend die Strafgeldregister ausgewertet
wurden. Im Anschluß daran verzeichnet der Hg. die von Seidemann
verwendeten und teilweise abgedruckten archivalischen
Quellen, in den meisten Fällen Quellen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs
Dresden, den Müntzernachlaß nach dem gegenwärtigen
Aufbewahrungsort in der Leninbibliothek/Moskau. Nur
wenige Stücke konnten nicht identifiziert werden.
Wer mit Seidemanns Studien arbeitet, sieht sich teilweise mit
Problemen konfrontiert, die sich in der Regel bei der Verwendung
älterer wissenschaftlicher Literatur einstellen, u.a. die Frage der
Quellenverwendung (Modernisierung, keine klare Abgrenzung zur
Paraphrase), das Verhältnis zu modernen Quellenpublikationen
(vor allem zu dem zweibändigen Werk von Felician Geß), die Seidemann
unterlaufenen Fehler (z.B. Lesefehler in den „Historien
von Thomas Müntzer", 117 oder Fehldatierung und Irrtum in der
Funktionsangabe bei den beiden Entwürfen der albcrtinischen
Räte vom 9710. März 1525, 176f, vgl. F. Geß, Hg.: Akten und
Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen. Bd. 2. Leip-