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Ausgabe:

1992

Spalte:

623-624

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Holze, Erhard

Titel/Untertitel:

Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried Wilhelm Leibniz 1992

Rezensent:

Schmidt-Biggemann, Wilhelm

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623

Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 8

624

Philosophie, Religionsphilosophie

Holze, Erhard: Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried
Wilhelm Leibniz. Stuttgart: Steiner 1991.204 S. gr.8° - Studia
Leibnitiana, Sonderheft 20. Kart. DM 58,-.

Leibniz ist so universalistisch wie das Zeitalter des Barock. Die
Gefahr, aus dem Arsenal von Leibniz' zu Lebzeiten erschienenen
und seinen nachgelassenen Werken, aus den Exzerpten, Entwürfen
, Notizen das herauszuziehen, was in den jeweiligen Zusammenhang
paßt, ist groß; sie hat in der Vergangenheit häufig zu
einseitigen, gelegentlich fruchtbaren Interpretationen geführt.
Gerade deshalb ist es erfreulich, wenn sich jemand beherzt daran
macht, das Zentrum von Leibniz' Philosophie, den Gottesbe-
griff, auszumachen und geradewegs darauf zuzusteuern, ohne
sich durch Überspezialisierung und philologisches Expertentum
beirren zu lassen. Genau das versucht Erhard Holze in seiner Monographie
, die 1990 in Marburg als theologische Dissertation angenommen
wurde.

Der Vf. geht sein Thema gemäß Leibniz' Prinzipien an: Das
Widerspruchsprinzip ist Interpretations-Leitfaden für Leibniz'
vorsichtige Adaption und Variation des ontologischen Gottesbeweises
: In seiner Jugend akzeptierte Leibniz den ontologischen
Beweis der Möglichkeit - Widerspruchsfreiheit von Gottes Prädikaten
, aber er beschäftigte ihn sein ganzes Leben weiter.

So recht hat Leibniz, wie der Vf. zeigt, den Beweis der Möglichkeit
Gottes allein nicht als zureichend beurteilt. Hingegen sieht er
im Satz vom zureichenden Grunde die entscheidende Voraussetzung
von Leibniz' Gotteskonzeption. Das belegt das Kapitel
„Gott als Grund des Notwendigen". In der Darstellung Gottes
als letztem zureichenden Grund gelingen dem Vf. die - wie ich
finde - trefflichsten Einsichten: Die Radikalfrage der Metaphysik
, „Cur potius aliquid quam nihil", die Leibniz als erster stellte,
wird so beantwortet: „Gottes Begründung begründet Seiendes
als Seiendes gegenüber Nichtseiendem, sie begründet Existenz
gegenüber Nicht-Existenz, Etwas gegenüber Nichts. "(71)

Damit ist der Titel des Buchs: „Gott als Grund der Welt im
Denken des Gottfried Wilhelm Leibniz" gerechtfertigt; die beiden
Folgekapitel zur Praestabilierten Harmonie und zurTheodi-
zee sind Explikationen dieser Einsicht in den Kern Leibnizscher
Gedanken.

Eine eindrucksvolle Dissertation - und doch bleiben einige
Fragen, gerade wegen der Einsichten, die in diesem Buch gewonnen
werden:

1. Was ist der Status eines Begriffs bei Leibniz? Es hat den Eindruck
, als changiere der Vf. in seinem ersten Kapitel über den ontologischen
Gottesbeweis zwischen der Vorstellung, daß Begriffe
stets menschliche Ideen und Einsichten seien und einem transindividuellen
logischen Konzept von Begrifflichkeit.

Das hat Folgen für den Begriff Existenz. Auch Gedankendinge
haben eine Existenz - nämlich eine geistige. Wenn nun Begriffe
geistige Existenz haben, müßte die Frage nach ewig wahren Begriffen
, die menschlich denkbar sind in ihrem Verhältnis zur kon-
tingenten menschlichen Existenz etwas anders gestellt werden,
als es der Vf. tut. Das veränderte auch den Status des ontologischen
Arguments: Denn wie ist es möglich, daß kontingente
Wesen notwendige Begriffe, also ewige Wahrheiten denken? Muß
der Leibnizsche Gott als das Ensemble komossibler Begriffe
nicht unter der Bedingung als notwendig begriffen werden, daß
überhaupt Wahrheit möglich ist?

2. Ähnlich unklar ist die Frage nach dem Verhältnis von Sein
und Nichts, nach der Leibnizschen Konzeption des Ens existifi-
cans. (Aber das liegt möglicherweise an den Quellen, die der Vf.
benutzt hat: Er benutzt praktisch allein die Leibniz-Ausgabe von
C. I. Gerhard. Die erschienenen Bände der Akademieausgabe
enthalten wichtige weitere Texte zu diesem Thema, über

die auch schon Interpretationen vorliegen.) Handelt es sich bei
dem Prozeß, der notwendig das Sein aus dem Nichts ermöglicht
und damit die Frage „Cur potius aliquid quam nihil" beantwortet
, eigentlich um Gott selbst, der sich selbst ermöglicht oder ist
lediglich die Frage nach dem Grund der Schöpfung gemeint?

An der Stelle wäre es für das Buch vielleicht sinnvoll gewesen,
der Vf. hätte die beiden Leibnizschen Prinzipien vom Widerspruch
und vom zureichenden Grunde gemeinsam gesehen und
zwischen zwei traditionellen Wirklichkeitsbegriffen unterschieden
: der Wirklichkeit, die das Ensemble des Denkbaren ausmacht
und der Wirklichkeit, die der Kontingenz entgegengesetzt
ist. Denn daraus wird folgendes Argument: Da ewige Wahrheiten
gedacht werden - und das Faktum existiert, daß sie gedacht werden
- haben die Denkenden an dem teil, was sich als widerspruchsfreie
(logisch mögliche und also nötige) Essenz auch den
kontingenten Existenzen mitgeteilt hat. Wenn Wahrheit ist, wäre
dann das Ergebnis des ontologischen Beweises und des Satzes
vom zureichenden Grunde, muß Gott sein.

Aber auch ohne daß diese Konsequenzen gezogen werden, das
Buch von Erhard Holze ist für alle, die sich mit der Metaphysik
Leibnizens beschäftigen, unentbehrlich: Es belegt eindrucksvoll
die Notwendigkeit, sich mit dem Gottesbegriff auseinanderzusetzen
, wenn man die Zentraltopoi von Leibniz' Wirkung, wenn
man den Begriff der Monade und die Konzeption der Theodizee
begreifen will.

Berlin W. Schmidt-Biggemann

Marschall, Wolfgang [Hg.]: Klassiker der Kulturanthropologie-
Von Montaigne bis Margaret Mead. München: Beck 1990. 379
S. m. 17 Abb. gr.8°. Lw. DM 58,-.

Unter Anthropologie stellen sich Theologen eine Lehre vor, die
sich auf das Wesen des Menschen bezieht. Die theologische Anthropologie
kann darum einen wichtigen Aspekt der Fundamentaltheologie
darstellen. Meist geht darüber die Einsicht verloren,
daß andere Disziplinen unter Anthropologie etwas anderes verstehen
- ein offeneres Projekt, den Menschen zu verstehen, das
zudem aus verschiedenen Perspektiven entworfen sein kann.
Eine der wichtigeren Perspektiven will ein von Wolfgang Marschall
herausgegebener Sammelband beleuchten. Der Direktor
des Instituts für Ethnologie an der Universität in Bern hat Beiträge
zu wichtigen Lehrern und Forschern der Kulturanthropologie
gesammelt. „Anthropologie" ist, wie gesagt, ein schillernder
Begriff - im deutschen Sprachraum eher auf die biologische Wissenschaft
vom Menschen, im Amerikanischen vorzugsweise auf
die ethnologische Perspektive bezogen. „Kulturanthropologie"
setzt auf die zuletzt genannte Sicht; der Sammelband scheint sie,
wenigstens am Rande und durch einen Beitrag zu Herder (51f0>
mit der geschichtlichen, der sprachlichen und damit auch der
hermeneutischen Sicht verbinden zu wollen.

Eine genaue Struktur der Gesamtsicht, der verschiedenen Perspektiven
und ihrer möglichen Überschneidungen gibt leider
auch die sonst übersichtliche Einleitung des Herausgebers nicht
her. Anders als jener ethnologische Relativismus, der noch 1948
die Vereinten Nationen von der Erklärung der Menschenrechte
abhalten wollte, hebt der Hg. die Frage nach kulturellen Universalien
hervor (8). Sie scheinen mit gesellschaftlichen Identifikationsprozessen
in Verbindung zu stehen. Gerade diese Frage
hätte das Problem der Fremderfahrung und transkulturellel
Hermeneutik ausleuchten lassen müssen; der ausführliche Artikel
zu Margaret Mead hätte dazu eine Chance geboten, da diese
Protagonistin der ethnologischen Anthropologie - offensichtlich
zu Recht - in den Verdacht von projektiver Forschungsarbeit geraten
ist (was die Verfasserin N. V. Zanolli auch andeutet, ohne