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Ausgabe:

1992

Spalte:

606-607

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schoon-Janssen, Johannes

Titel/Untertitel:

Umstrittene "Apologien" in den Paulusbriefen 1992

Rezensent:

Haufe, Günter

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 8

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terarischen Festgabe auf ein Jahrhundert im Dienste der Bibelwissenschaft
zurückzublicken.

Es war nicht ungeschickt, die Würdigung in Form einer biographisch
-bibliographischen Porträtgalerie anzulegen und sie
dem ersten Nichtfranzosen im engeren Kreise der Ecole, dem
Iren Jerome Myrphy-O'Connor (geb. 1935) zu übertragen, der sie
in englicher Sprache präsentiert. Es ist ein einladendes Gesamtbild
entstanden. Was in strenger nationaler und konfessioneller
Begrenzung begann, ist zu einem nach wie vor profiliert katholischen
und frankophon geprägten, aber in übernationale und ökumenische
Arbeitsgemeinschaft eingebundenen Institut geworden
. Der Band beschränkt sich auf die neutestamentliche
Forschung und behandelt nach einem kurzen Abschnitt über die
schwierigen Anfänge (1-5) die herausragenden Lehrer und Forscher
in chronologischer Reihenfolge und schließt mit einer nach
Autoren geordneten Bibliographie 1890-1990(151-196).

Am Anfang stand der Gründervater Marie-Joseph Lagrange
(■855-1938), der von der deutschen Forschung, bedingt durch
nationale und konfessionelle Entfremdung, nur wenig zur Kenntnis
genommen wurde. Sein Ringen um Lebensraum für eine
sachgerechte Exegese in den Grenzen, die das kirchliche Lehramt
seiner Zeit gesetzt hatte, läßt sich an der Skizze seines Weges als
Ordensmann und Gelehrter ablesen. Lagrange, der als polyglotter
Orientalist und Alttestamentier begonnen hatte, wurde nach
der Verwerfung seines Genesis-Kommentars (1906) zu einem mit
exegetischem Instrumentarium ausgerüsteten Apologeten. Seine
Kommentierung der Synoptiker war bestimmt von der Abwehr
Renans, Loisys und der deutschen protestantischen Forschung;
die Auslegung des Römer- und des Galaterbriefs verfaßte er während
des Weltkrieges, um Paulus den Lutheranern zu entwinden;
den Johanneskommentar in Antikritik zur Religionsgeschichtlichen
Schule; am Ende des Lebens stand eine unvollendet gebliebene
Einleitung - allesamt Werke, die die neuere katholische Exegese
auf dem Wege, der ihr bereits unter Pius XII. geöffnet
wurde, hinter sich ließ.

Deren Repräsentanten stehen in Piere Benoit (1908-1987)
und Marie-Emile Boismard (geb. 1916) vor uns. Daß Benoit, der
•n Deutschland mit Aufsätzen zur Passions- und Ostergeschichte
sowie zur Theologie des Paulus (Auswahl: Exegese und Theologie
, Düsseldorf 1965), vor allem aber als Verantwortlicher für das
Neue Testament in der Jerusalem-Bibel bekannt wurde, als Übersetzer
und Interpret seines großen Ordenskollegen Thomas von
Aquin begann, wußten bei uns nur wenige. Es erklärt sein bleibendes
Bemühen um eine in der Inspirationslehre fundierte Hermeneutik
und sein entschiedenes Eintreten für die Authentizität
von Kolosser/Epheser, von denen aus die Leib-Christi-Ekklesio-
'°gie entwickelt wird. Seine Mitarbeit als Konsultor beim 2. Vatikanischen
Konzil hat vor allem in den Dekreten über die Ostkirchen
und über die Religionsfreiheit ihre Spuren hinterlassen.

Im Unterschied zum weit ausgreifenden Schaffen Benoits ist
Boismards Werk eher das eines exegetischen Spezialisten. Er ist
Schöpfereiner im französischen Raum verbreiteten Synopse, hat
v,ele Jahre an die Erforschung des „westlichen" Acta-Textes gesetzt
. Seine Arbeit an den Synoptikern ist von dem Versuch gekennzeichnet
, Alternativen zur klassischen (in Deutschland entwickelten
) Zwei-Quellen-Theorie vorzulegen, deren wachsende
^°minanz vor allem von den im frankophonen Raum wirkenden
^eutestamentlern mit Mißbehagen gesehen wird. Eigenwillig ist
aUch das 4-Stufen-Modell der literarisch-theologischen Entwickung
des Johannesevangeliums, mit dem er sich sowohl von der
tinheitsschau E. Ruckstuhls als von der Analytik der Schule
Bu|tmanns absetzt.

Spezifisch landeskundlich-archäologische Themen nehmen
e" den bislang behandelten Neutestamentlern der Ecole (im Unterschied
zu den Alttestamentlern) nur einen geringen Raum ein.
Inders beim Herausgeber Murphy-O'Connor, der neben seinen

Qumranforschungen auch Autor eines mehrfach übersetzten archäologischen
Führers durchs Heilige Land (dt. München 1981)
ist. Die abschließende kurze Würdigung der neuen Generation
(138-146) läßt erwarten, daß das traditionsreiche Institut auch
künftig die neutestamentliche Arbeit mit neuen Antworten auf
alte und neue Fragen beleben wird.

Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

Schoon-Janssen, Johannes: Umstrittene „Apologien" in den
Paulusbriefen. Studien zur rhetorischen Situation des 1. Thess-
alonicherbriefes, des Galaterbriefes und des Phillipperbriefes.
Göttingen: VandenhoeckÄ Ruprecht 1991.182 S.gr.8°-Göt-
tinger theologische Arbeiten, 45. kart. DM. 40,-.

Daß Paulus sich in seinen Briefen öfter mit Gegner-Vorwürfen
auseinandersetzen muß und insofern zu „apologetischen" Ausführungen
gelangt, ist unbestritten. In welchem Umfang es geschieht
, darübergibt es keinen Konsensus. Während der apologetische
Charakter gewisser Passagen im 1 und 2Kor als gesichert
gelten kann, gehen die Meinungen über fragliche Abschnitte im
IThess, Gal und Phil nach wie vor auseinander. Mit diesen umstrittenen
„Apologien" beschäftigt sich die von Georg Strecker
angeregte und betreute Dissertation. Das wohltuende differenzierende
Ergebnis sei vorweg mitgeteilt: Gal lf ist ein wirklich
apologetischer Text, während die potentiellen Apologien in ITh
2,1-12 und Phil 3,4-6 und 4,17 nur scheinbare Apologien sind,
deren tatsächliche Funktion anders zu bestimmen ist.

Auf welchem Weg gelangt der Autor zu seinem Ergebnis? Darüber
informiert die „Methodologische Vorklärung" (14-38). In
einem ersten Schritt wird der Stil des jeweiligen ganzen Briefes
bestimmt, wobei vier Stil-Elemente von Bedeutung sind: Elemente
antiker Epistolographie, Elemente griechisch-römischer
Hochrhetorik, Diatribe-Stil und AT-Zitate. Erst danach wird der
Einzeltext untersucht und abschließend Charakter und Funktion
der jeweiligen „Apologie" bestimmt. Dieser multimethodische,
forschungsgeschichtlich sehr gut aufbereitete Ansatz überzeugt
und führt zu interessanten Ergebnissen.

Ausgehend von der Theorie des antiken Freundschaftsbriefes,
wie sie namentlich K. Thraede beschrieben hat, weist der Autor
im IThess zahlreiche Topoi des Freundschaftsbriefes nach, bemerkt
aber auch, daß das Schreiben „über den reinen Freundschaftsbrief
in Richtung Lehre und Paränese hinausgeht" (47). In
rhetorischer Hinsicht bietet der IThess primär „eine epideikti-
sche Interpretation des Ist-Zustandes" der Gemeinde (48), wobei
nur der kleine „symbuleutische" Abschnitt 4,10-12 aus dem lobenden
Rahmen herausfällt. Lehrreich ist die Abwesenheit von
Diatribe-Elementen, die auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis hindeuten
, sowie das Fehlen von AT-Zitaten, aus dem folgt, daß sich
Paulus nicht gegen Angriffe aus einem jüdischen oder judenchristlichen
Lager wehren muß. Diese Stil-Elemente zeigen, daß
Paulus der Gemeinde „ nicht als überlegener Lehrer", sondern als
„seelsorgerischer Freund" begegnet (52). Anlaß für eine begründete
Apologie ist schon von daher nicht zu erwarten. ITh 2,1-12
bereitet implizit und explizit die Paränese von 4,1 ff vor, wobei
die Verwandtschaft von 2,5.9 und 4,1 lf erkennen läßt, daß der
ganze Abschnitt „ den Vorbild-Charakter des Apostels für die Gemeinde
" - gegen eine Geringschätzung alltäglicher Arbeit - betont
. Es geht um „die Beschreibung eines vorbildlichen Verhaltens
, das die Gemeinde zur Nachahmung ermuntern soll" (64).

Auch der im Vergleich mit IThess so andersartige Gal enthält
wenigstens in 4,12-20 Topoi des Freundschaftsbriefes und der
Freundschaftslehre. Schon deshalb ist die rhetorische Bestimmung
des ganzen Briefes als eines apologetischen durch D. Betz
nicht haltbar. Als Apologie läßt sich nur 1.1.10-2,14 verifizieren.
Der Abschnitt wendet sich in drei Beweisgängen gegen den Vor-