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Ausgabe:

1992

Spalte:

534-535

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bondolfi, Alberto

Titel/Untertitel:

Ethik und Selbsterhaltung 1992

Rezensent:

Kreß, Hartmut

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Theologische Literaturzeitung 11 7. Jahrgang 1992 Nr. 7

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nur die Religion und ihre Theorie- und Praxisgcstaltcn, sondern
die neuzeitliche Kultur insgesamt betrifft.

Was R.s Entfaltung dieses Pädoyers im Kontext dos gegenwärtigen ethischen
Diskurses angeht, so sei u.a. auf die Texte in dem unlängst erschienenen
Sammelband .Vielspältiges. Protestantische Beiträge zur ethischen
Kultur' (Stuttgart/Berlin/Köln 1991) verwiesen. Der zunächst etwas pre-
ziös anmutende Titel schließt bewußt an eine Einsicht Ernst Trocltschs an.
nämlich an die Erkenntnis, „daß das Sittliche von Hause aus nichts Einheitliches
, sondern etwas Vielspältiges ist" (Grundproblcme der Ethik.
GS II, 2. Aufl. 1922. Neudruck 1965. 657). Indes ist nicht nur die Ethik ein
Begriff, der sich eindeutiger Fixierung entzieht, vielspältig ist auch die Stellung
der Theologie und ihrer Dogmatik im Prozeß der Moderne. Daß dies
nicht zwangsläufig Zwiespalt und intransigente Alternativen zur Folge
haben muß, will R. exemplarisch am Verhältnis so unterschiedlicher Theo-
logengcstalten wie Ernst Trocltsch (Neuorentierung in der modernen Welt.
Studien zu Ernst Trocltsch. 27-107) und Karl Barth (Opposition im Banne
der Neuzeit. Studien zu Karl Barth. 109-198) zeigen, denen die beiden ersten
Tcxtkomplexc gewidmet sind: Trotz tiefgreifender Gegensätze betrieben
beide Theologie unter den Bedingungen neuzeitlichen Bewußtseins,
auf das nach R. der Anlihistorismus der frühen Dialektischen Theologie
ebenso alternativlos bezogen blieb wie die spätere Futurisierung der Theologie
, „mit der das alte Lehrstück der Eschatologic in den Dienst einer die
historische Welt überwindenden Praxis gestellt wurde" (23). um schließlich
und endlich die Gestalt eines alternativen Modcrnisicrungspro-
gramms anzunehmen.

Daß auch Kontroversen verbinden können, bestätigen des weiteren die
unter den Überschriften .Verwandtschaft in der Distanz- (199-270) und
• Verborgene Kontinuitäten" (271-329) vereinten Studien zur Religionsgeschichte
der Neuzeit bzw. zur Religion im Kontext der Moderne. In ihnen
sucht R. die Moderne trotz aller Brüche und tiefgreifenden Wandlungen
wenn auch nicht als das letzte, so doch als das Kapitel der Christentumsgc-
schichtc zu erweisen, in dem die Theologie gegenwärtig und bis auf weiteres
ihrer Aufgabe gerecht zu werden hat. Das gilt um so mehr, als nach R.s
Einschätzung die postmodernc Historisierung der Moderne nicht deren
Verabschiedung, sondern derern Selbststeigcrung im Sinne pluralisicren-
der Differenzierung dient.

Solcher Pluralisierung im Zuge fortschreitender Historisicrung
können und dürfen sich nach R. auch Religion und Theologie
n'cht entziehen. Aufgabe sei es vielmehr, die zur Signatur der
Moderne gehörende Umstrittenheit sich bewußt anzueignen und
einen Beitrag zu leisten zu einer durch anspruchsvolle Selbstlimi-
tation gekennzeichneten Strcitkultur, in welcher das Projekt der
Moderne nicht mehr länger nur ein dominierendes Kriterium für
seine Selbstvollcndung zuläßt. R.s .postmodernc Ansicht über
modernes Christentum' (323-329), mit denen der Sammclband
schließt, ergibt sich hieraus konsequent und erlaubt bezüglich
■hres Autors zugleich das im Zuge geforderter Historisicrung zu
erbringende thcologiegeschichtliche Urteil: ein moderner postmoderner
in unserer postmodernen Moderne.

Augsburg Gunther Wcnz

Engelmann. Angelika: Aufbrüche und Durchbrüchc. Anfänge und Perspektiven
einer Feministischen Theologie in der DDR (In: Jost. R.. u. U.
Kubcra [Hg.]: Befreiung hat viele Farben. Gütersloh: Mohn. S. 35-42).

Heymel. Michael: Gottes Ja zu Israel: das Christusbekenntnis verbindet
die Kirche und Israel (DtPfBl 91. 1991. 351-354).

Hinlicky. Paul R.: Evangclism at the End of Protestantism (Dialog 39.
'991.204-212).

Jaspert. Bernd: Das Kreuz Jesu als symbolische Realität. Ein Beitrag
zum christlich-jüdischen Dialog (ZThK 88. 1991. 364-387).

Grtega. Ofelia: Feministische Theologie eine Lebensperspektive für La-
'einamerika (In: Jost. R.. u. U. Kubcra [Hg.]: Befreiung hat viele Farben.
Gütersloh: Mohn. S. 104-120).

Pithan, Anncbelle. u. Elsa Tamcs: Hat die Bcl'rciungslheologic nichts
^eucs mehr zu sagen? Interview im August 1991 in San Jose (Costa Rica)
,JK 53.1992. I 1-18).

Schaumberger. Christine: „Es geht um jede Minute unseres Lebens!"
Auf dcn Weg zu einer konlextucllcn feministischen Bcfrciungstheologic
"°: Jost R.. u. U. Kubcra [Hg.]: Befreiung hat viele Farben. Gütersloh:
M°hn. S. 15-34).

Siegele-Wenschkewitz. Leonorc: Feministisch-theologische Anstöße für
eine neue Qualität von Kirche (In: Jost. R.. u. U. Kubcra [Hg.]: Befreiung
hat viele Farben. Gütersloh: Mohn. S. 43-62).

Solle, Dorothcc: Mitleiden - Mithandcln. Frauen unterwegs zu der
Einen Welt (In: Jost. R.. u. U. Kubcra [Hg.]: Befreiung hat viele Farben.
Gütersloh: Mohn. S. 63-77).

Stolle. Volker: Gott als Mutter bei Luther und in der lutherischen Tradition
(LuThK 15. 1991. 156-170).

Systematische Theologie: Ethik

Bondolfi, Alberto: Ethik und Selbsterlialtung. Sozialcthischc Anstöße
. Frciburg/Schwciz: Univcrsitätsverlag: Frciburg-Wien:
Herder 1990. 190 S. 8 = Studien zur theologischen Ethik. 30.
Kart. DM 28,-.

Der Schweizer Moralthcologc A. Bondolfi diskutiert in diesem
übersichtlich gestalteten, didaktisch angelegten Buch eine Reihe
ethischer Thcmcnfcldcr: Der Bogen wird von sozialethischcn
Grundlagenfragcn im Wandel der Gesellschaft (I) über die Ethik
der Biomedizin (II) und des Strafrechts (III) bis zum Verhältnis
von Politik und Kirche (VI) gespannt. Es sei die Anmerkung vorangestellt
, daß die angeschnittenen Themen z. T. allerdings allzu
knapp erörtert werden. Z. B. würde man sich - besonders aufgrund
des Votums der EKD „Strafe: Tor zur Versöhnung?"
(1990) zugunsten von Rcsozialisicrung im Strafvollzug - eine differenzierende
Erläuterung wünschen, wenn der Vf. den Vorbehalt
äußert, daß (Rc-)Sozialisicrung „zu einer Anpassungstechnik
an die bestehende Gesellschaft" werden könne (124).
Insofern bleiben in dem Buch manche Thesen und Einzclfragcn
genauer klärungsbedürftig. - Es sollen nun aber einige Akzente
des Buches beleuchtet werden.

1. B.s Stellungnahme zur In-Vitro-Fcrtilisation (IVF) hebt sich
von der kathol.-amtskirchlichen Position entschieden ab. indem
eben nicht, wie in der Instructio ,. Donum vitac" (1987). mit
einer problematischen naturrcchtlichcn Denkfigur auf das Wesen
der Ehe oder des ehelichen Aktes abgehoben wird (77). Wenn
stattdessen zu argumentativen Güterabwägungen aufgerufen
wird, führt dies freilich keineswegs dazu, daß die IVF pauschal legitimiert
würde: Denn Unfruchtbarkeit lasse sich nicht im Vollsinn
als „Krankheit" bezeichnen, so daß nicht von einem
„Recht" auf IVF. sondern - bestenfalls - von einem „legitimen
Interesse" die Rede sein könne (78). Dieser argumentativ abwägenden
Sichtweisc ist fraglos zuzustimmen. - Im Blick auf AIDS
warnt B. vor Diskriminierungen Betroffener (84. 91) sowie vor
einer Dogmatisierung von Gesinnungsethik (86). so daß für eine
ethisch orientierte, sensibilisierende Aufklärung der Bevölkerung
plädiert wird (87). Ein ja auch innerhalb der Kirche anzutreffender
moralisierender Umgang mit dem Thema wird hierdurch
vermieden.

2. Menschliche Krankheit, und damit auch AIDS, wird ausdrücklich
nicht als Strafe Gottes für menschliche Schuld bewertet
(82). Obwohl Schuldzuweisungen dieser Art. gerade bei AIDS,
also nicht vorgenommen werden sollen (93). heißt es gleichzeitig:
„Es bestehen sicherlich Zusammenhänge verschiedener Art zwischen
Krankheit und Schuld" (93: vgl. 61 ff). Die Frage nach dem
Verhältnis von Krankheit. Schuld und Strafe ist ein ethisch und
seelsorgerlich außerordentlich sensibles und thcologicgcschicht-
lich sehr belastetes Thema. B. selbst zitiert das Wort Jesu in Jo.
9.3. welches einer Deutung von Krankheit als Sündenstrafe zuwiderläuft
(61.82). Schon Schlcicrmachcr hatte sieh in seiner Glaubenslehre
(J1830, i) 76) auf den kritischen Gehalt dieses Jesuswortes
berufen! Es ist mir jedoch nicht deutlich, um welchen
Erkenntnisgewinns willen B. in der Deutung von Krankheit nun
dennoch ein „Verhältnis". „Zusammenhänge" und sog. „strukturelle
Ähnlichkeiten" zwischen Krankheit und Schuld betont