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Ausgabe:

1992

Spalte:

529-531

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Thompson, Diane Oenning

Titel/Untertitel:

The brothers Karamazov and the poetics of memory 1992

Rezensent:

Onasch, Konrad

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Theologische Litcraturzcitung I 17. Jahrgang 1992 Nr. 7

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schiedlichcn Bildformulierungen" geführt, bei den Kommentatoren zu
neuen Bcdculungsvariaiiten. insgesamt zu Darstellungen, die mit dem antiken
Relief wenig mehr als die Person-Trias und ihre Gestik gemein haben
(z.B. Abb. 22-26). Erst im 20. Jh. wurde, im Rückgriff nicht mehr auf ein
fiktives Stück, sondern auf das Original, das Stück endgültig entmythologisiert
und eine Datierung der Inschriften „jedenfalls im Jahre 1465" vorhanden
erreicht (832).

Man darf gespannt sein auf des Vf.s angekündigte Publikation
„Die Wiederentdeckung eines augusteischen Reliefs - oder wie
ein Topos entstehen kann".
(Fortsetzung im nächsten Heft)

Heidelberg Erika Dinklcr-von Schubert

Thompson. Diane Oenning: The Brothers Karamazov and the
Poetics of Memory. Cambridge-Ncw York-Port Chcster-
Melbournc-Sydney: Cambridge University Press 1991. 358 S.

Die Vfn. dieser bemerkenswerten Dostojewski-Monographie
geht von dem "Problem of Christ in contemporary life", von der
Frage, wie man die Inkarnation Christi dem Menschen der Gegenwart
Dostojewskis nahebringen kann. "His Incarnation is it-
self a memory and can only be a memory... Christ lived and
spoke in a very different world from that represented in Do-
stoevsky's novel. This presented Dostoevsky with the problem of
representingan absent ideal and integrating it intoa cultural, spa-
'■otemporal and historical context inhercntly alien to it. Dostoevsky
aimed to make that memory alive. active and dynamic
by incorporating it into mimetic images of contempory peoplc.
•nto the dramas of their lives... This he achieved by cstablishing
varies poetic relationships between this ideal and his fictional
characters. by quotations or allusions to canonical sources. the
use of Christian symbolism and evocations of the divinc proto-
'yps through iconographic images" (274). Leser und Rezensent
steht eine anspruchsvolle Lektüre bervor, wenn sie die Durchführung
dieses Programms verfolgen wollen.

Seine wesentlichen Punkte lassen sich so zusammenfassen.
wobci es nicht mehr möglich ist, auf eine Fülle von wertvollen
Einzelbeobachtungen einzugehen1: In Analogie zum anamneti-
schen Charakter der Liturgie formuliert die Vfn.: "In art, as in
'■fe, the primary funetion of memory is recuperative. A memory
's a revival and a representation of something that was onee pre-
Sent... In this respect. the individual memory is analogous to the
spatio-temporal continuum of creative memory where all coe-
Xists" (23-24) Insofern "our memorics make artists of us all"
(25). In besonderer Weise trifft das auf den "fictional narrator"
zu, ein fiktionales Gebilde, das gerade bei Dostojewski eine Außerordentliche
Komplexität, "a broad diversified image of the
narrator's contemporary Russia of its social, moral and Spiritual
Problems, its historical dilemmas" (27). Unter dem Aspekt dessen
, was man die anamnetische Leistung des Erzählers nennen
darf, gewinnt die Frage nach seiner Poetik gerade bei Dostojewski
besonderes Interesse. So ist der drittc-Pcrson-Erzählcr für
den Dichter "an ideal vehicle for creating a dialogic System bc-
eause it enables him to turn all the great philosophical dialogucs"
'28). Ihm gegenüber besitzt zwardcr"authorial narrator... an in-
dependent .teller Charakter' who is the agent of transmission of
tn-e story", aber "Nevertheless, the objectivity of the authorial
narrator is by no means absolute" (29). Der begrenzte Informa-
'■onshorizont des erste-Pcrson-Erzählcrs befähigt ihn nicht nur
zum Biographen seines Helden zu werden, sondern auch zu
einem "tone of an intimatc conversation with the reader" (31).
^ehr noch: Es ist gerade die notwendige Unvollkommen heil
dieses Erzählers, die die „creative power" seines wie auch immer
determinierten Erinnerungsvermögens begründet. "For if his
Memory were perfect. it would be static. and the novel would be

littlc morc than a Container of old news rather than a dynamic gc-
nerator of news mcanings" (48). Die ästhetischen Modelle der
Erinnerungen sind bekannt. Aber gegenüber vorschnellen "un-
dcrlying parallel patterns and symbolic Systems" können die
„Brüder Karamazov" nicht "with ordinary causality" verstanden
werden (63). So ließen sich vordergründig Parallelen zwischen
Ocdipus und bestimmten Gestalten der „Karamazovs"
herstellen. "But the redemptive factor is absent. The Christian
redemptive pattern is a complete inversion of the classical plot.
structurally and semantieally... The Christian plattem is reversible
... The classical tragedy is irreversible. In the Christian view.
suffering is redemptive. in the classical it is irrcduciblc... The
memory strueture of the redemptive plot steadily acquircs a primary
motivating funktion in the novel" (70). Diese anamnetische
Struktur der Erzählung mit ihrer spezifischen Motivationsfunktion
besitzt einen affirmativen und einen negativen Aspekt,
ein gedanklicher Entwurf, bei dem ohne Zweifel der Pscudoarco-
pagite der Vfn. Pate gestanden hat.2 Der Held der "affirmative
memory" ist Alcsa. dessen Gestalt einer eindringenden Analyse
nicht zuletzt unter Heranziehen der „ Urbild-Abbild-Acsthctik"
(79) unterzogen wird.'

Wieder wird gezeigt, daß und wie der Dichter nicht einfach
eine "simple copy" von Alcsa und Zosima mit Hilfe von Bibel
und Hagiographic erarbeitet, sondern ein "artistic picturc" "al-
most cntircly on the principlc of poetic memory" (89). Nachdem
auf diese Weise die Personen des Romans behandelt werden, geschieht
es auch mit den "forms of negative memory". an deren
Spitze Fcdor Karamazov steht - als "profander of sacred rites
and texts. and a desecrator of holy images" (131). In einem umfangreichen
Kap. geht die Vfn. auf das Moment des „ Vergessens"
(Forgetting) ein. insofern "Rcmcmbcring implies forgetting. for
they are both complcmcntary aspects of the samc proecss of sclec-
tion" (158).

Die z.T. überraschenden Einsichten in die Arbeit Dostojewskis
werden schließlich zusammengefaßt: "Amncsia negatives
memory. Combining motifs of memory and amncsia. Dostoevsky
ercated a larger poetic System of oppositions in which
the positive Clements of the memory system are denied. suppres-
scd. repressed or oblitcratcd in the amncsia System" (210). Das
Moment des "forgetting" spielt u. a. bei Ivan eine wichtige Rolle
als "annihilation of the collcctivc sacred memory" (206f). Dem
„Vergessen" steht das „Prophezeien" (Forctclling) gegenüber
mit eindringlichen Analysen der Zukunftsvisionen Alcsas. Zosi-
mas und Mitjas auf der einen und Ivansauf der anderen Seite vor
dem Hintergrund von Dostojewskis eigener Utopie vom „Goldenen
Zeitalter".

Das letzte Kap. "The Christoccntric poetic memory System"
untersucht die Variation zum Thema "Imitations of Christ" bei
Mitja. Ivan und Alesa. der als "christological hcro" bezeichnet
wird (3120 mit einer faszinierenden Interpretation des „Großinquisitor
" (303-310) und der Tcufelscrschcinung als "potential
imitatio" (310-312).

Der Rczensionsgcwaltmarsch durch das Buch von Frau
Thompson konnte seine Bedeutung für die Dostojewski-
Forschung nur andeuten. Daß Dostojewski ein christlicher Dichter
sei. ist zwar immer wieder mehr oder weniger überzeugend
deklariert worden. Die Vfn. hat - sowie ich sehe - zum ersten Mal
durch schlüssige Analysen der Dichterkunst Dostojewskis demonstriert
, daß " wc encounter Dostoevsky as a Christian poct. It
is hcre that his art becomes a expression of a "hightcr realism"*
(72). Sic folgt dabei Dostojewskis eigenen Vorstellungen, wenn er
wünschte, daß man seine Werke „nicht direkt, nicht Punkt für
Punkt" zu verstehen habe, „sondern eher indirekt, d. h. nach Art
eines künstlerischen Gemäldes".4

Halle/Saale Konrad Onasch