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Ausgabe: | 1992 |
Spalte: | 522-523 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Murtorinne, Eino |
Titel/Untertitel: | Die finnisch-deutschen Kirchenbeziehungen 1940 - 1944 1992 |
Rezensent: | Haendler, Gert |
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Theologische Litcraturzeitung 1 1 7. Jahrgang 1992 Nr. 7
fern ihr Interesse an Müntzer nicht von ihrer politischen Gegen- bzw. bestimmten Geschichtsverläufen deutsch-nationalen und
Wartssituation geprägt ist. Nach Junghans unterscheiden sich die NS-Intcresscn untergeordnet.
M.-Rezeptionen aus dem Deutschen Reich kaum von denen aus In der Literatur, die im damaligen Deutschen Reich entstan-
der Schweiz (27). Insgesamt besteht eine Diskrepanz einerseits den ist. findet sich kein Beispiel dafür, daß M. benutzt wurde, um
zwischen dem auf die dialektische Verschränkung von Werk und gegen den NS-Staat zu opponieren. Entsprechendes bieten einige
Rezeption abzielenden theoretischen Ansatz und andererseits der damaligen marxistischen Exulanten (400-410). Vor allem Al-
der im Durchführungsteil zu findenden isolierten Betrachtung fred Meuscl (1940/41) verwendet M. als Leitfigur im Widerstand
beider Bereiche sowie dem faktisch undialcktisch strukturierten gegen Adolf Hitler. M. wird den Menschen der NS-Zcit als Vor-
Rezeptionsprozeß im Fall M. bild für einen Heerführer des unterdrückten deutschen Volkes im
(3) Trotz der geäußerten Vorbehalte bietet das Buch For- Kampf um die Befreiung vom Faschismus vor Augen gestellt
schungsfortschrittc zum einen als Müntzcrbibliographic für den (403-409).
diskutierten Zeitraum. Mit der ausgezeichneten Spczialbiblio- Trotz der genannten Beispiele für ideologisch bedeutsame M.-
graphie (429-527) und dem Autorenregistcr (529-596) hat das Rezeptionen waren die M.-Darstellungen im Deutschen Reich
Buch lexikalischen Wert. Zum anderen bereichert das Werk die mehr von Luthers Theologie als von der NS-Idcologic geprägt. In
M.-Forschung hinsichtlich des Wissens um die M.-Rezeption. ihrer Abhängigkeit vom lutherischen Müntzerbild unterscheidet
die auf den NS bezogen ist. Diese Thematik ist bei Junghans ein sich die M.-Rezeption der Nationalsozialisten nicht von den frü-
Schwerpunkt und als geschlossener Komplex mit Einschränkung heren Epochen der Geschichtsschreibung,
greifbar. Die oben kritisierte Tendenz. Untersuchungsergebnisse
additiv statt systematisch integriert zu bieten, läßt sich auch bei Sindclfingcn DieterFauth
der Darstellung der NS-M.-Rezeption beobachten.
Grundsätzlich war M. für den NS-Staat weder als Legitima-
''onsfigur noch als mögliche Gefahr für die eigene Ideologie son-
derlich relevant. Auch den Gegnern des NS-Rcgimcs war M. in MV"0"n"e' El"o; ?ie finnisch-deutschen Kirchenbeziehungen
ihrem Widerstand keine wichtige Gestalt. Aus diesen Gründen '94°r'k "°^o^^ f'^uT^
„_, , .. _ ,„ . ......, ,. , Vandcnhoeck & Ruprecht 1990. 253 S. gr.8 = Arbeiten zur
unterlag d.c Person und Rezeption M.s nicht in dem üblichen Geschichte des Kirchcnkampfcs. Ergänzungsreihe. 15. Kart.
Maß der Gleichschaltung von Meinungen. Auch aus anderen dm 44 _
Gründen (vgl. 355) erklärt sich, daß es ein relativ breites Spek-
trum i. d. R. eklektischer M.-Rezeptionen während der NS-Zcit Die Arbeit geht aus von den engen finnisch-deutschen Verbingeben
konnte. düngen seit der Reformation. Der Kirchenkampf 1933 wurde in
Trotz der grundlegenden Gleichgültigkeit der NS-Zcit gegen- Finnland beachtet: „Die kirchlichen Zeitungen stellten sich aus-
uber M. gibt es. eingebettet in unterschiedliche Sachzusammcn- nahmslosauf die Seite der Bekennenden Kirche" (12). Im Winter
hänge, doch eine Fülle von Rezeptionen M.s mit negativem oder 1939/40 stand Finnland allein der übermächtigen Sowjetunion
Positivem Bezug zum NS-Regimc. Vorherrschend ist die Angst gegenüber. Teile Karcliens mit Viipuri (Wiborg) mußten abgetre-
der Nationalsozialisten vor den mit M. verbindbaren Verändc- ten weden. Die Enttäuschung über Deutschland war groß. „Bit-
rungskräften von unten, losgelöst von den Institutionen, d. h. der terkeit blieb aber auch gegenüber den nordischen Nachbarn zu-
partei (383). Entsprechend überwiegen negative M.-Rczcptio- rück" (21). Finnland hoffte weiter auf deutsche Hilfe: „Dies traf
nen. Der damalige Propagandaministcr Joseph Goebbels verbot auch für die finnische Kirche zu. die wegen ihrer Angst vor dem
'933 Willi Schäferdieks Müntzerdrama bzw. -hörspiel. obwohl atheistischen Bolschewismus ihre einzige Rettung in der Untcr-
es zumindest deutsch-national ausgerichtet war („deutscher Stützung durch Deutschland sah. Die kritische Haltung, die
Müntzer"), u. a. weil es den 1933 mit einem Jubiläum bedachten durch das nationalsozialistische System und den deutschen Kir-
^lartin Luther verunglimpfe. Schäferdick sah seinen M. vom NS- chenkampf ... entstanden war. mußte dem Interesse der natio-
Regime als „frühen Kulturbolschewik" diskreditiert (3360- nalen Sicherheit weichen, das gleichzeitig den Bestand und die
Walter Flex (1939, 2. Aufl.) dient als Beispiel für einen bcllctri- Existenz der Kirche berührte" (23). Im August 1940 kam eine
tischen Autor, der M. mit NS-Ncgativa besetzte („rothaariger deutsche Geldspende für die Kirche Finnlands: die Tagung der
Mensch"), um ihn dann zu verwerfen (338). Andere verwarfen Luthcrakademic Sondershausen sah finnische Gäste. Auslands-
^- als Anarchisten bzw. Demokraten bzw. Feigling (334f.) bischof Heckcl wollte die Luthcrhallc und die Luthcrakademic
Die Geschichtslchrbücher (357-372) zeigen grundsätzlich die „in einheitlicher Form und Lenkung" einsetzen: er wollte damit
lendenz, M. zu ignorieren (361-363). Wo er erwähnt wird, domi- auch „die schwierige Stellung seiner eigenen Kirche der nationalen
seine Verdammung als gewaltliebender bzw. christlicher sozialistischen Staatsmacht gegenüber auf diesem Wege festigen"
Kommunist, womit natürlich Kommunisten und Christen der (31). Im November wurde die Luther-Agricola-Gcschäftsstcllc
NS-Zeit getroffen werden sollten. gegründet, wenige Tage nach dem Molotow-Bcsuch in Berlin
Die Religionslehrbücher (377-382) bieten insgesamt dasselbe (43-58). Belastet wurde des Verhältnis durch den Kirchenkampf
''d. abgesehen davon, daß sie auf die Verbindung zwischen in Norwegen. Hcckel organisierte eine Reise für eine finnische
nnstentum und Kommunismus verzichteten. Bei ihnen steht Kirchcndclcgation durch Deutschland: Kontakte zu führenden
lrn Gegensatz zu den vorwiegend gegenwartsbezogenen rezipie- deutschen Lutheranern - Marahrcns. Liljc. Mciscr. Wurm - gab
renden Geschichtslchrbüchern das von Junghans als wcrkanaly- es nicht. Der schwedische Gesandtschaftspfarrcr schrieb bitter.
'lsch bezeichnete Interesse an M. im Vordergrund. Sic folgen hier daß 13 Pfarrer der Bekennenden Kirche im Gefängnis sitzen und
Cr theologisch-kirchlichen Literatur(395-399). gleichzeitig ein finnischer Bischof „von staatlichen Stellen als
Die damalige Bauerntumsforschung (313-315) sah in ihren auch von der Partei mit großem Aufzug empfangen wurde" (72).
^ehr vereinzelten Bemerkungen M. als denjenigen, der die Dazu sagt Murtorinnc: „Hier offenbart sich der ganze Widcr-
auern verführt habe. Spruch, der durch den auf taktisch-politischem Kalkül beruhen«
Die wenigen Beispiele, in denen M. von der NS-ldeologic ver- den finnisch-deutschen kirchlichen Freundschaftsbund ausgelöst
c'nnahmt wurde, stammen vorwiegend aus der Belletristik. Wer- worden war. Bei ihrem Ersuchen um Zusammenarbeit mit dem
ner Heise (1935) gibt das eindrücklichstc Beispiel dafür. Er hat Kirchlichen Außenamt und dem offiziellen Deutschland mußte
j^in Müntzerbild dem herrschenden Hitlcrbild angeblichen und die finnische Kirche jener deutschen Kirche den Rücken kehren,
s Kriegsideologic. seine angeblich negative Sicht von Kirche der sie sich im Innersten verbunden fühlte" (73). Eugen Gersten-