Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1992

Spalte:

435-437

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Via, Dan Otto

Titel/Untertitel:

Self-deception and wholeness in Paul and Matthew 1992

Rezensent:

Sellin, Gerhard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

435

Theologische Litcraturzcitung 1 17. Jahrgang 1992 Nr. 6

436

Via, Dan O.: Self-Deception and Wholeness in Paul and Matthew
. Minneapolis: Fortress Press 1990. VIII, 173 S. 8 .

Was sich hinter dem für deutsche Leser zunächst etwas rätselhaften
Titel verbirgt, ist nichts Geringeres als eine neutestament-
liche Theologie, beispielhaft an Paulus und dem Matthäusevangelium
vorgeführt. Unter dem Stichwort "self-dcception"
(Selbstbetrug, etwa im Sinne einer „Lebenslüge") wird die
Existenz des Menschen vor der Glaubensoffenbarung erfaßt, mit
"wholeness" (Ganzheit, Heilscin) die Existenz im Glauben, in
der die schöpfungsintendierte Vollkommenheit (wieder) hergestellt
ist. wo der Mensch mit sich selbst übereinstimmt. Entsprechend
hat das Buch neben einer Einleitung ("The naturc of
self-deception") und einem zusammenfassenden Schluß vier
Hauptteile: "Self-deception in Paul". "The Recovery of Wholeness
in Paul", "Self-deception in Matthew". "The Recovery of
Wholeness in Matthew".

Via vertritt eine Existential-Theologie, die sich eng an Bultmann
anlehnt (was schon am Aufbau erkennbar ist), jedoch in
zwei Bereichen über ihn hinausgeht: Das ist einmal die Methode
des literary criticism, wie Via sie bereits in seinem auch ins Deutsche
übersetzten Gleichnisbuch vorgeführt hatte, und zum anderen
die Ergänzung der existentialen Interpretation durch die Psychologie
. Im Prinzip halte ich diese Erweiterungen für sehr
berechtigt und gelungen: Die literaturwissenschaftlichen Methoden
und Modelle bilden eine Brücke zwischen Textanalysc und
Existenzanalyse, und die Psychologie macht die Ergebnisse plausibler
, konkreter und nachvollziehbarer.

Das Buch ist äußerst komprimiert geschrieben, und ihm liegt
ein großes Potential an philosophischer, literaturwissenschaftlicher
, psychologischer, soziologischer und hcrmcncutischer
Theoriebildung zugrunde. Die Lektüre ist nicht eben leicht.
Dafür wird der lernbereite Leser mit einer Fülle von neuen Anregungen
und Erkenntnissen belohnt.

Im ersten Abschnitt des Paulus-Teiles erschließt Via durch das
Konzept "Self-deception" den für Paulus zentralen Konnex von
Gesetz - Sünde - Tod (- Gerechtigkeit - Leben). Rom 7 nimmt
dabei eine Zentralstellung ein. Das Konzept "Self-deception" ist
ein komplexes System mit Paradoxicn: Der Mensch klammert
sich bewußt an eine "cover-story": seine eigene Gerechtigkeit. Er
ahnt aber die " real story ", die er verdrängt: daß er vor Gott ungerecht
ist. Diese Ahnung schafft Angst und Eifer nach mehr Gerechtigkeit
. Aus diesem Teufelskreis kann sich der Mensch nicht
selbst befreien, da in der Steigerung der eigenen Gerechtigkeit gerade
die Gottlosigkeit (Sünde) besteht. Dabei spielt das Gesetz
(obwohl der Intention nach gut) eine verhängnisvolle Rolle. Die
vielen Widersprüche, die gerade in der Gesetzesthematik bei
Paulus zu finden sind, versucht Via (in Auseinandersetzung vor
allem mit Räisänen) durch Unterscheidungen wie ontologisch/
ontisch oder kohärentes Zentrum/kontextual bedingte Modifikationen
(Christian Beker), letztlich aber unter Herausstellung notwendiger
Paradoxien menschlicher Existenz zu lösen. Solche
Paradoxien finden sich in der von self-deception geprägten
Existenz ohnehin, ist hier doch der Betrüger nicht nur mit dem
Betrogenen identisch, sondern auch verantwortlich (da latent bewußt
) und Opfer einer ihn versklavenden und verführenden
Macht zugleich. Das Gesetz aber ist eine solche dämonische
Macht. Dazu werden zwei Exkurse gemacht: eine vorzügliche
Abhandlung über Mächte und Gewalten im Neuen Testament
(einschließlich der „Elemente der Welt"), die im Anschluß an
Walter Wink in einer existentialen Interpretation gipfelt, und
eine mehr verwirrende Darstellung der neueren Metapher-
Theorien. Denn mit Hilfe des Metapher-Begriffs möchte Via
seine existentiale Auslegung litcraturwissenschaftlich begründen
. Das scheint mir aber nicht gelungen.

Es hat gelegentlich den Anschein, daß Via dort, wo sich die Befunde

nicht ganz, fügen, mit dem Stichwort Metapher (oder „metaphorische
Existenz") zaubert. Das liegt vor allem an der Unscharfe des Viasehen
Metapher-Begriffs. Im Anschluß an den Psychologen James Hillmann «erden
Metaphern einerseits als Mini-Mythen erklärt und dann mit den Jungschen
Archetypen (als "rootmetaphors") gleiehgcset/t. die wiederum
Grundmodelle menschlicher Existenzmöglichkeiten darstellen. Hier ist
der Begriff der Metapher mit dem des Symbols verwechselt worden. Andererseils
wird gleich/eilig das metaphorologische Intcraktionsmodcll
(etwa von Rica'ur) vorausgesetzt, wonach die Metapher aus der Spannung
synthetisch verbundener, semantisch dissonanter Worte oder Wortgruppen
resultiert. Metaphern und Archetypen sind aber etwas Verschiedenes.
Mit Hilfe dieser eklektischen Mischung möchte Via seine Existcntialien
poctologisch-litcraturwisscnschaftlich begründen und kommt so zu dem
Begriff der metaphorischen Existenz, die bestimmt wird als Erfahrung der
Ambiguital der Wirklichkeit - Woraufhin dann das Gesetz als eine Metapher
erklärt wird, weil es zur Mißinterpretation der menschlichen Existenz
einlädt. Aber wieso ist Ambiguital ein qualifizierendes Merkmal einer
Metapher?

Eher in den Bahnen konventioneller Exegese bleibt der Abschnitt
über "wholeness" bei Paulus, der es zum größten Teil
(nach einer grundlegenden Verhältnisbestimmung von Indikativ
und Imperativ mit ihren Paradoxien) mit der Ethik zu tun hat. Im
Zentrum stehen hier 1 Kor6 und 7 (7.29-31 wird dabei zum Aus-
legungskanon) und eine Klärung der Begriffe „Leib" und
„Geist" (Pncuma) des Menschen. „Leib" wird im Anschluß an
Bultmann (mit Reserven gegen Käsemanns Bultmann-Kritik) im
Sinne der Sclbstrclation des Subjektes verstanden. Entsprechend
wird das menschliche Pncuma (m. E. zu sehr) vom Pneuma Gottes
abgehoben.

Die zweite Hälfte des Buches ist der matthäischen Anthropologie
. Sotcriologic und Ethik gewidmet. Via setzt ein mit einer aul
den ersten Blick "sophistic" erscheinenden Exegese von Mt
7.15-20: Trotz guter Taten (= Schafskleider) ist das Inncrc
(Wölfe) der Propheten schlecht. Gleiches gilt von den Pharisäern
(Mt23). Eigentlich (bei nichtgcfallcncr Schöpfung) müßten sich
aber Früchte (Taten) und Baum (Sein) entsprechen. Auf diesem
Hintergrund werden dann „Gesetz" und „Gerechtigkeit" bei Mt
interpretiert (5.1 7-20): Die „größere Gerechtigkeit" zielt auf die
Übereinstimmung ("wholeness") der guten Taten mit der inneren
Intention. Pharisäer und falsche Propheten weisen nach Via
durchaus Taten der Barmherzigkeit vor. Ob eine solche Zuspitzung
auf die innere Disposition dem Mt gerecht wird, wird man
etwa angesichts von Mt 25.31 ff fragen. Diesem Text legt Via freilich
die Voraussetzung unter, daß die „Schafe zur Rechten" implizit
aus reinem Herzen und somit in ganzheitlicher Harmonie
gehandelt hätten. Wieso wird aber solches den Pharisäern abgesprochen
? Über den Begriff "hypokrites" (in der Tat eher mit
„Selbsttäuschcr" als mit „Heuchler" zu übersetzen) kann Via
dann das Konzept der self-deception wieder hereinholen. Seine
Analyse der Existenzstruktur des Menschen als "hypokrites
führt dann zu ähnlichen Ergebnissen wie beim paulinischen Gesetzesbegriff
. - "Wholeness" erlangt der getäuschte/sich täuschende
Mensch nach Mt in der Jüngerschaft. Um das zu zeigen-
werden Begriffe wie Hören. Verstehen. Glauben und Imagination
(!) aus den Texten heraus analysiert. Im Mittelpunkt stehen die
Gleichnisse in Mt 13 und die Scligprcisungen als Beispiele für die
Imaginationskraft des Matthäus.

Sowohl der cxistcntialanalytische Ansatz wie die Methoden des
literary criticism bedingen eine fast ausschließlich synchronischc
Exegese, die sich litcrar- oder traditionsgcschichtliche Erklärungen
von Kohärenzspannungen nicht erlaubt. Der Band macht dein
Leser/der Leserin sehr schön deutlich, wie litcratur- und sprachwissenschaftlich
fundierte existentiale Hermeneutik exegetischen
Gewinn bringt - zugleich aber auch, wie solche Modelle (wie Metapher
-Theorie, "reader-response-criticism" usw.) gelegentlich
den Texten nicht ganz passende Kleider anlegen können.

Bemerkenswert isl noch eine Formsache: Via verwende! abwechseln*
weibliche und männliche Personalpronomen, wo ein RUckbczug aul ein