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Ausgabe:

1992

Spalte:

377-378

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Grewel, Hans

Titel/Untertitel:

Recht auf Leben 1992

Rezensent:

Kreß, Hartmut

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1 17. Jahrgang 1992 Nr. 5

378

Systematische Theologie '. Ethik ^ Beispiel der Ambivalenz medizinisch-technischen Fortschritts
stellt die In-Vitro-Fertilisation dar. Gegen sie erhebt der
Vf. gravierende Einwände (noch immer niedrige Erfolgsquote;
Grewel, Hans: Recht auf Leben. Drängende Fragen christlicher *öuchst aufwendiges und physisch wie psychisch belastendes VerEthik
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990. 231 S. 8 . fanren; überzählige Embryonen [199ff, 203ff]). Auch darüber,
Kart. DM 29,80. daß die verbrauchende Embryonenforschung überhaupt erst die

Voraussetzung für die erste In-Vitro-Fertilisation in England
Das gut lesbar, allgemein verständlich geschriebene Buch erör- schuf, sollte in der Tat nicht einfach hinweggegangen werden,
tert Fragenkomplexe der medizinischen Ethik und biomedizi- Das unbedingte „Recht" auf ein Kind wird auf diese Weise zum
nischen Forschung. So werden, z.T. recht knapp und schlag- Problem. Fraglicher scheint mir jedoch, ob sich - ferner - die
lichtartig, Sterbehilfe und Euthanasie, die Behandlungspflicht weltweite Armut und Kindersterblichkeit, also ein überindivi-
an Schwerstgeschädigten Neugeborenen, Organtransplantation, duell-sozialethisches Problem, als unmittelbarer Einwand gegen
Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik bedacht. Darüber die Therapieverfahren zur Behandlung individueller Sterilität
hinaus werden Überlegungen zum heutigen Verständnis von Ge- eignet (2040- In ähnlich breitem Rahmen, unter Hinweis auf die
sundheit, Krankheit und Alter sowie zur Struktur des Kranken- „weltweit ungelösten Aufgaben" der Gesundheitsfürsorge, wird
hauses vorgetragen. Eingangs setzt sich der Vf. mit der Position gegen die humangenetische Forschung argumentiert (223). Je-
P- Singers auseinander, der u.a. in seiner „Praktischen Ethik" doch: Ungeachtet fundamentaler Einwände gegen eine Reihe
(dt. 1984) mit utilitaristischen Begründungen die Tötung mißge- möglicher Anwendungen der Gentechnik sollte ebenfalls gesehen
bildeter oder kranker Neugeborener legitimierte. werden, daß z.B. die gentechnische Frühdiagnostik behandel-
1. Die ethischen Probleme, die durch den medizinisch- barer Krankheiten (z. B. Phenylketonurie oder Netzhauttumor)
technischen Fortschritt entstanden sind, werden in dem Buch in allerschwerstes individuelles Leiden zu lindern oder zu vermeiden
größeren Rahmen philosophischer (Singer!) wie theologi- den hilft. Lassen sich globale gesundheitspolitische Probleme
scher Deutungsansätze eingestellt. Gegen Singers utilitaristisches überzeugend hiergegen ausspielen?

Konzept eines abstrakten Nutzen- oder Interessenkalküls betont 4. Zu den Tendenzen des durch medizinisch-technischen Fort-
der Vf. die lebensweltliche und lebensgeschichtliche „Erfah- schritt erzeugten Wertewandels gehören sicherlich eine „An-
rung" von Menschen als angemesseneren Ausgangspunkt der Spruchshaltung" (56) von Patienten gegenüber Ärzten, Apparate-
Ethik (29ff). In der Tat ist zu unterstreichen: Existentielle Fragen medizin und dem aufwendigen Gesundheitssystem sowie eine
der Lebensführung und der Ethik, wie der Umgang mit behinder- stark überzogene Hoffnung auf die technische Herstellbarkeit
tem neugeborenen Leben, lassen sich gerade nicht mit Hilfe eines von Leidfreiheit. Mit dem Thema des Leidens verbindet sich so-
Denkmodells erfassen, das-wie Singer-abstrakt-rationalistisch dann das Problem der Tötung Schwerstleidender „aus Mitleid".
verfährt, den Wert des Lebens in Glücksbilanzen quantifiziert Es wird aufgezeigt, daß das Mitleidsmotiv aber höchst zwiespältig
Ur|d, mit der willkürlich postulierten Abkehr vom jüdisch- ist. Die sog. „Tötung aus Mitleid" ist u. U. gar Folge und Kom-
christlich begründeten Lebensschutz, in einem ungeschichtli- pensation von „verweigertem Mit-Leiden" Dritter(71; 910). In
chen Scheinrationalismus befangen bleibt. G.s Buch arbeitet her- der theologischen Reflexion zum Leiden (160-177) widerspricht
aus, daß bei der Reflexion des Umgangs mit Krankheit und der Vf. einer theologischen Leidensverklärung ebenso wie er von
Behinderung das Menschenbild in Frage steht (10, 53). Die Men- hochproblematischen Deutungsmustern der religiösen Überiie-
schenwürde und den Schutz des Lebens an Vorbedingungen der ferung (Leiden und Krankheit als Strafe) abrückt (170; 52). Das
Gesundheit zu knüpfen, wird mit Recht abgewiesen (67ff). bloße Vorhandensein von Gebrechlichkeit und Leiden ist für
Ebenso ist zuzustimmen, wenn das Buch theologisch gesehen eine vom Leistungsbegriff (96, 104) und vom medizinisch-
keine biblisch-deduktive Ethik vorträgt, welche Problemlösungen technischen Fortschritt geprägte Gesellschaft fraglos sperrig und
zu unvermittelt in biblischen Vorgaben suchen würde (12). Der disfunktional. Dazu, daß die Herausforderung durch das Leiden
^f- stellt überzeugend heraus, daß dennoch Grundeinsichten nicht verdrängt, sondern aufgearbeitet wird, sollte gerade die
*um Menschenbild, die die Achtung des behinderten und den Theologie ihren Beitrag leisten. Dieses Desiderat theologisch-
Schutz des schwachen Lebens betreffen, unhintergehbar in der ethischer Reflexion, auf das auch G.s Buch den Blick lenkt, sei
biblischen und christlichen Überlieferung verankert sind. Ange- hier besonders herausgestellt und aufgegriffen.
s'chts dessen erscheint es mir sogar eher zu zurückhaltend, nur 5. Zum Umgang mit Sterbenden wird von G. akzentuiert, daß
v°n ethisch relevanten „Impulsen" und „Richtungspfeilen" der zwischen Sterbenlassen und (abzulehnender)aktiver Euthanasie
biblischen Überlieferung (12, 50) und nicht explizit von Christ- kategorial unterschieden werden muß. Obgleich auch das Sterben
begründeten Normen und Wertmaßstäben zu sprechen, die ben-Lassen bzw. die sog. passive Sterbehilfe eine „Tat" und
auch in einer säkularisierten, postchristlichen Gesellschaft zur „Entscheidung" darstellen (65), ist die von G. rezipierte Unter-
keurteilung medizinisch-technischer Entwicklungen zu Rate zu Scheidung von Sterben-Lassen und aktiver Euthanasie funda-
Z'ehen sind. mental (64ff, 79). Die gesellschaftliche Diskussion um eine ak-
2-Zutreffend zeigt das Buch auf, daß die heutigen, erweiterten tive Euthanasie wird sich in Zukunft wahrscheinlich noch
Medizinischen Diagnose- und Handlungsmöglichkeiten ggf. ent- verstärken. Jedoch darf nicht übersehen werden: Eine aktive Tö-
sPrechende „Bedürfnisse" oder Erwartungen nach sich ziehen, tungshandlung (im Unterschied zur passiven Sterbehilfe als
^° daß z. B. das gesunde, nicht behinderte Kind zum Maßstab des einem Geschehenlassen des natürlichen Sterbevorgangs) ist irre-
T^unsches der Eltern wird (111, 1210- Eine solche - eugenische - versibel und endgültig; kein ethisches Subjekt darf sich ein Tö-

endenz gesellschaftlichen Wertewandels ist zutiefst problema- tungsrecht anmaßen, ebensowenig wie eine Tötungshandlung

'•seh; schon jetzt zeichnen sich ein Trend zur Abtreibung als einem Dritten moralisch zugemutet werden darf („Tötung auf

Krank vermuteter Kinder und eine weitere Verschlechterung der Verlangen"); und es würde einen unabsehbaren Einbruch in das

?esellschaftlichen Akzeptanz Behinderter ab. G. zitiert überdies Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient bilden, sofern

^fßerungen, denen zufolge ältere Menschen „die Pflicht [!] ggf. gar dem Arzt die Aufgabe der aktiven Euthanasie zugespro-

aben zu sterben" (106). Solche Formulierungen bieten das Ge- chen würde. Dem Votum des Buches gegen die sog. aktive Sterbe-

8enstück zu heutigen moralphilosophischen Thesen über eine hilfe ist daher nachdrücklich zuzustimmen.
Moralische „ Verpflichtung" zur Abtreibung Behinderter (so etwa

■ B'rnbacher). Wachtberg Hartmut Kreß