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1992

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Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 5

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gen gaben, die bis zur Gegenwart etwa in England, auf dem nordamerikanischen
Kontinent und auf den sog. „Missionsfeldern"
Wirkungen zeigen, dann fällt um so stärker auf, wie geradezu
selbstgenügsam und bescheiden, angepaßt und kleinbürgerlich,
schweigsam und still, öffentlichkeitsirrelevant und programmlos
sich die Baptisten in Deutschland von jeher zeigten. Gelegentlich
freilich blitzte auch genuin Freikirchliches auf, so etwa in der Revolution
von 1848, als zumindest der Prediger Julius Koebner
den Zusammenhang von Freikirchentum und Demokratie sowie
Religionsfreiheit und Mission erkannte und literarisch verteidigte
. Aber zu allermeist überwog eine Schneckenhausmentalität
, in die man sich auch nach Ende des zweiten Weltkrieges wieder
verkroch, um die eigene Geschichte zu tabuisieren. Mit
Recht sagt die Vf.n in ihrem Vorwort, daß diese Verhaltensweise
„eine notwendige Neubesinnung auf die essentiellen freikirchlichen
Prinzipien bisher verhindert" hat (VIII). Ob das vorliegende
Buch dazu verhilft, daß sich mittels jener Neubesinnung
die bis heute noch nicht freie Kirche in eine Freikirche verwandelt
?

Als Günter Kösling 1980 seine Dissertation über die deutschen
Baptisten 1933/34 in Marburg vorlegte, scheint er immerhin dazu
beigetragen zu haben, daß die deutschen Baptisten auf dem Jubiläumskongreß
1984 in Hamburg ein Schuldbekenntnis vor den
Vertretern der europäischen Baptisten ablegten. Die Verfasserin
zitiert am Schluß ihres Buches dieses Bekenntnis. Es schließt mit
der Bitte an Gott, daß man „aus diesem Teil unserer Geschichte
lernen" möge, um für die „geistigen Verführungen dieser Zeit"
wacher zu sein. Aber wo ist ein solcher Lernprozeß ablesbar? Wo
und durch wen kommt er in Gang; wie äußert er sich? Ist man
nicht weiterhin öffentlichkeitsscheu und gibt auf drängende Fragen
keine Antworten, um ja nicht „politisch" zu werden? Ist die
Geschichte der Baptisten von 1933-1945 nicht gerade durch ihr
Schweigen zu einer politischen Parteinahme geworden?

Im Mittelpunkt des Buches steht der baptistische Bundesdirektor
Paul Schmidt (1888-1970). Er hatte 1935-1959 ohne Unterbrechung
dieses Amt inne. Schon daran läßt sich eine höchst
mangelhafte Sensibilität gegenüber dem tiefgreifenden Wandel
1945 erkennen. In der Ökumene sah man dies als alarmierendes
Zeichen an: Keine Änderungen, noch nicht einmal Änderungen
des Herzens, geschweige denn der Personen in der Leitung seien
erkennbar, so klagen die Vertreter der Ökumene (303, bes. Anm.
6). Schmidt hatte aus Sorge um den Bestand des Gemeindebundes
seine anfänglich kritische Haltung - er war kurze Zeit
1930-32 Reichstagsabgeordneter des Christlich-Sozialen Volksdienstes
gewesen - aufgegeben und nicht nur politisches Wohlverhalten
demonstriert, sondern sich auch wiederholt für die NS-
Propaganda mißbrauchen lassen, so z.B. 1937 gemeinsam mit
dem methodistischen Bischof Otto Melle auf der Weltkirchenkonferenz
in Oxford (231 ff). Schmidts Traum war es gewesen,
eine einheitliche deutsche Freikirche als „Dritte Säule" neben
den evangelischen Landeskirchen und der römisch-katholischen
Kirche zu bilden, um so gegenüber dem totalitären Staat bestehen
zu können.

Angesichts aller solcher Illusionen und zum Teil grotesker Anpassungen
, wie zum Beispiel die Einführung des Führerprinzips
in einen kongregationalistisch verfaßten Gemeindebund, fragt es
sich, wieso der Baptismus mit den Wölfen heulte. Hatte man
nicht die Gemeindeglieder dazu erzogen, gegen den Strom zu
schwimmen? Strübind führt theologische Gründe an, verschweigt
aber auch nicht, daß der seit Gründung des Baptismus
stets gegenwärtige äußere und innere Druck durch Staat und Kirche
jene Anpassungsmechanismen hervorrufen halfen, in deren
Dienst dann auch die theologischen Gründe wie eine falsche
„Zwei-Reiche-Lehre" oder eine eschatologisch-apokalyptische
Schau der Geschichte standen und sie verstärkten. Man wird -
mehr vielleicht als es die Vf.n tut - das dialektische Gegenüber

von Freikirche einerseits und dem Staat und der Volkskirche andererseits
im Auge behalten müssen, um das freikirchliche Versagen
in der Tiefe zu erfassen, was natürlich auch bedeutet, daß die
evangelische Kirche und der Staat monarchistischer und republikanischer
Prägung ein gerüttelt Maß an Verantwortung mittragen
. Im Grunde definierte sich der Baptismus in Deutschland
weniger anhand der freikirchlichen Propria oder mit Hilfe eines
freikirchlichen Paradigmas als vielmehr im Kampf um Anerkennung
durch Staat und Kirche. Als der NS-Staat Konzessionen an
die Freikirche machte, die weder die Weimarer Republik, geschweige
denn das kaiserliche Deutschland zugestanden hatten,
war der Weg in die totale Akkommodation vorgezeichnet.

Das Buch besticht durch klare Gliederung, gute Lesbarkeit,
aber auch durch eine zutreffende Zusammenfassung (312-322).
in der auch der theologische Ertrag der Arbeit sehr gut gebündelt
wird. Ein mit biographischen Angaben erweitertes Personenregister
und ein Sachregister beschließen den Band.

Eine deutlich markierte Grenze hat das Buch: Es basiert auf
den Quellen des Bundes. Nur gelegentlich sind Vorgänge in den
Gemeinden erwähnt. Es wäre an der Zeit, wenn es nicht schon
viel zu spät ist, die Quellen der Ortsgemeinden zu sammeln und
wissenschafltich zu sichten.

Bcnshcim Erich Gcldbach

Besier, Gerhard: Heinrich Vogel - ein Lutheraner im bruderrätlichen
Flügel der Bekennenden Kirche (Berliner Theologische Zeitschrift 8. 1991.
232-244).

Henkys, Reinhard: Tribunal ohne Urteil und Strafe. Unserer Nach-
kriegsgeschichte müssen sich alle Deutschen stellen (EK 24. 1991. 582-
585).

Laux, Bernhard: Milicubarricren fallen. Zum Verhältnis von Arbeiterschaft
und Kirche (StZ 116, 1991, 759-772).

Nowak, Kurt: Protestantismus und Nationalstaat im 20. Jahrhundert.
Weimarer Republik - Drittes Reich - DDR/Bundesrepublik Deutschland
(PTh 80, 1991.446-458).

Puza, Richard: Die Kirchen und die deutsche Einheit: Kirchen- und
staatskirchcnrcchtliche Probleme um das deutsch-deutsche Zusammenwachsen
(ThQ 171, 1991, 188-203).

Raiser, Konrad: Die Neuordnung Europas - Anfragen an die Kirche
(PTh 80. 1991.405-417).

Ratz, Edmund: Die politische Öffnung im Osten als Herausforderungen
die Kirche (Luth. Kirche in der Welt 38, 1991. 79-97).

Schultze, Harald: Evangelische Frauen in der deutschen Aufklärung-
Desiderate kirchengcschichtlicher Forschung (Berliner Theologische Zeitschrift
9. 1991, 59-75).

Steinbruck, Josef: Johann Nikolaus von Hontheim. Ein Gelehrter im
Spannungsfcld von Kirche und Staat. Zentralgcwalt und partikularer Selbständigkeit
(TThZ 100. 1991. 187-204).

Zimmermann, Gunter: Die Zwci-Reichc-Lchre und die Konstitution
der religiösen Freiheit in Virginia (Berliner Theologische Zeitschrift 8.
1991. 216-231).

Territorialkirchengeschichte

Delbanco, Hillard: Kirchenkampf in Ostfriesland 1933-1945-
Die Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden in den Auseinandersetzungen
mit den Deutschen Christen und dem Nationalsozialismus
. Aurich: Verlag Ostfriesische Landschat
1988. 191 S. m. 29 Abb. gr.8 = Abhandlungen und Vorträge
zur Geschichte Ostfrieslands, 68. Kart. DM 24,-.

Die Erwartung, daß die seit langem gewünschte Arbeit über
den Kirchenkampf in den lutherischen und reformierten Gemeinden
im damaligen preußischen Regierungsbezirk OstfneS'
land zwischen 1933 und 1945 nunmehr vorliegt, wird mit diesem