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Ausgabe: | 1992 |
Spalte: | 370 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Scheurenberg, Klaus |
Titel/Untertitel: | Überleben 1992 |
Rezensent: | Irmscher, Johannes |
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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 5
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dächtnis zu bewahren. In einer Zeit, in der Tendenzen, den nationalsozialistischen
Terror zu relativieren, offenkundig sind, erfüllt
das Buch eine wichtige Aufgabe.
Berlin Johannes Irmscher
bzw. des Christentums. Aber durchgängig blieb das protestanti- Scheurenberg, Klaus: Überleben. Flucht- und andere Geschich-
sche Interesse an der „gesamtkulturellen Verbindlichkeit der ten aus der Verfolgungszeit des Naziregimes. Berlin: Brunochristlichen
Tradition" (34). Insbesondere die evangelischen und Else-Voigt-Stiftung 1990; 63 S. 8 - Stätten der Ge-
Theologieprofessoren begriffen sich in diesem Sinn als richtungs- schichte Berlins, 48.
weisende Elite, getragen von dem stolzen Bewußtsein, daß Lu- „ . , ,.n-., irir,m ... ,n,ni-- ,^ct
thar- a j- r> r ■ u. j- a/ . Der Autor (1925-1990), selbst von 1943 bis 1945 Zwangsde-
mer und die Reformation nicht nur die Voraussetzungen, son- . ., . ,,, ... . .
j.r .. , „ _ . .. ... , cc , „. portierter des Naziregimes, nach dem zweiten Weltkrieg lange
Qem die feste Basis für die moderne Kultur geschaffen hatten, die , . ,, . .. .... ..... , . . _ f. .
h0„ ,i ■ , j nn j c ■ Jahre Vorstandsmitglied der Judischen Gemeinde zu Berlin und
aann vor allem in der Anerkennung und Pflege der freien, auto- ... , , „ , - . . ... , ..... , _
r,„_ ■ , Mitvorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusam-
uomen Persönlichkeit wurzele
u^rjn j- menarbeit, hat Berichte vornehmlich j unger J uden, Angehöriger
£u Recht unterstreicht Graf, daß es sich bei diesem Deutungs- „ , , L . .A '.. ., _ . ,
—,,„, . . .. 1 , , .. . , , , der Synagogcngemeinde ebenso wie Getaufter, über ihre Erlebmuster
keineswegs um die Besonderheit einer theologischen . . . ,. .. . „ . .
c-l . ,. ... . _ , , , ... nisse in nationalsozialistischen Konzentrationslagern vor und
schule oder einer kirchlichen Gruppe handelte. Wenn er gleich- ... ,, • ■. r-i . .. tw iu
toM .. .. , . ,. , . ..... , . „,.. wahrend des zweiten Weltkrieges, ihre Flucht und ihre Uberleben
wonl die Akzeptanz der christlichen Legitimität der Aufklarung .... ,. _ . ... ^
□i. v .. ,. . ... ,. _ ,. zusammengestellt, um die Erinnerung an den Holocaust im Ge
dis Kriterium für die Auswahl der behandelten Gestalten nennt, An~u*-u «.!Ti______i____i„ ___:_j„.t___i__,__a____
engt er seinen interessanten Ansatz sogleich wieder ein. Aber
auch diese Position wird nicht konsequent durchgehalten. Es begegnen
hier nämlich auch Gestalten wie Melchior Goeze oder
August Tholuck, die man wohl kaum in einem Atemzug mit einer
auch nur partiell positiven Beurteilung der Aufklärung erwähnen
w<rd. Ob schließlich durch die Konzentration auf Theologieprofessoren
, mithin auf die akademische Theologie, das Profil des „ .... . 4 . ^. -.*.,,..,»„..„..
nw,„-.r . r. u j i . u u Strubmd, Andrea: Die unfreie Freikirche. Der Bund der Bapti-
"euzeitlichen Protestantismus besonders p astisch hervortritt - , ' ■ . ■ „ ■,, D • .„ x, . ■ ■ .„ K,
nA ,........, , .. .. . ,, „. , stengemeinden im „Dritten Reich . Neukirchen-Vluyn: Neuser
ob dann nicht vielleicht eher die traditionelle S.chtwe.se des kirChener Verlag 1991. 343 S. = Historisch-theologische Stu-
Protestantischen Universitätstheologen zum Ausdruck kommt, (jjen zum 19 u 20. Jahrhundert, 1.
sei wenigstens als Frage angemerkt.
Vorgestellt werden - erfreulicherweise jeweils mit einem Por- Was zunächst auffällt, ist der Umstand, daß mit dem vorliegen-
trait - zwölf Persönlichkeiten. Eine in aller Regel mit großer den Band eine neue Reihe, „Historisch-Theologische Studien
S°i"gfalt gearbeitete Bibliographie der veröffentlichten und un- zum 19. und 20. Jahrhundert", eröffnet wird, für die ein interna-
yeröffentlichten Schriften jeder Gestalt sowie der wichtigsten Se- tionales Herausgebergremium unter Leitung von Gerhard Besier
kundärliteratur verleiht dem Buch besonderes Gewicht - obwohl (Kirchliche Hochschule Berlin) verantwortlich zeichnet. Auffal-
bisweilen, z. B. im Artikel über Bretschneider (202-232), diesem lend ist es deshalb, weil in der Regel die kleineren Kirchen wenig
Teil mehr Gewicht zuzukommen scheint als der Darstellung. Beachtung erfahren. Die Mitgliederzahlen und das öffentliche
Natürlich ist es hier nicht möglich, die Beiträge im einzelnen Engagement dieser Kirchen wirken nicht ermunternd auf wissen-
^ würdigen. Besonders gelungen - im Sinne der Realisierung des schaftliche Untersuchungen. Daher ist es sicherlich mutig vom
v°rangestellten Programms - erscheinen mir die Portraits von Hg. und Verlag, mit dem Thema eine wissenschaftliche Reihe zu
Kant (86-112), Schleiermacher (173-201), de Wette (233-250) beginnen.
und Nitzsch (287-318). Theologisch überschätzt wird m. E. Pau- Was weiter auffällt, ist der Titel der vorliegenden, 1989 an der
us (128-155). In einigen Artikeln geht es erstaunlicherweise wie Kirchlichen Hochschule Berlin angenommenen Dissertation. Er
eh und je allein um Philosophie- und theologiegeschichtliche Fra- wirkt sozusagen reißerisch, und man könnte entsprechend einen
Bestellungen. Dabei hätte, etwa bei der Darstellung von Daub „Zerriß" der Freikirche oder doch zumindest eine vernichtende
(156— 172), die Berücksichtigung der neueren Literatur zum deut- Kritik erwarten. Aber in diese Richtung ist der Titel nicht gesehen
Liberalismus geholfen, vieles genauer, auch richtiger zu ge- meint. Die Vf.n hat ihn von dem baptistischen Arzt J. Köbberling
^'chten. Aber es ist eben leichter - hier wie sonst -, ein neues entlehnt, der vergeblich versucht hatte, den deutschen Baptismus
°nzept zu proklamieren als zu realisieren. an die Seite der Bekennenden Kirche zu bewegen und der 1937
Von der inneren Unausgewogenheit des Bandes im Blick auf trefflich formulierte, daß die Verheißung des Segens in der Nach-
>e theologischen Gegner der Aufklärung war bereits die Rede. folge Christi bei denen ist, die das Kreuz tragen und „nicht bei
eichen Sinn die Berücksichtigung von Goeze und Tholuck hat, der Kirche, die sich ihres guten Verhältnisses zur Welt rühmt.
Ie'bt unklar. Jedenfalls werden beide Gestalten nicht als Alter- Diese ist gebundene, unfreie Kirche, auch wenn sie sich noch so
nativauslegungen einer allen gemeinsamen kulturellen, sozialen stolz .Freikirche' nennt" (316). Dieses Zitat verdeutlicht etwas
^nd politischen Situation und Herausforderung behandelt. Die von dem Inhalt des Buches. Die Verfasserin zeichnet behutsam
usführungen über Tholuck (251-264) muten ziemlich konven- und an den offiziellen, verfügbaren Quellen entlanggehend den
0r|ell an. Und das hier gebotene Bild von Goeze (71-85) ist Weg der Baptistengemeinden durch das „Dritte Reich" nach.
ITlehr als flach. Was es bedeutete, daß der Hamburger Haupt- Hält man sich diesen Weg der totalen Akkommodation - und
Pastor wie Semler ein Schüler Baumgartens war, kommt hier damit des totalen Versagens angesichts eines mit Recht als terro-
ensowenig in den Blick wie das Faktum, daß Goeze in der Aus- ristisch gekennzeichneten Regimes - vor Augen, dann wird ange-
e'nandersetzungmit Lessing keineswegs nur aggressive Verständ- sichts des Ausmaßes an Menschenverachtung auf Seiten des NS
n,s'°sigkeit zeigte. und des geringen Gespürs für die Zeichen der Zeit auf Seiten der
A'les in allem: Hier haben wir es mit einem interessanten, an- Baptisten die Frage akut, ob diese Freikirche wirklich erst im
re8enden Buch zu tun, mit dessen Konzept und Durchführung „Dritten Reich" zu einer „unfreien" Freikirche wurde oder ob
^an nicht einfach übereinstimmen muß - aber worüber sich sie ihre Unfreiheit nicht schon aus ihrer seit 1834 bestehenden
S'nnvoll diskutieren läßt. So darf man auf die schon lange ange- Geschichte mitbrachte. Darüber reflektiert die Verfasserin nicht;
ndigte Fortsetzung gespannt sein - die dann hoffentlich nicht es gehört ja auch nicht zu ihrer unmittelbaren Aufgabe. Aber
er mit einem sinnentstellenden Druckfehler schon auf der wenn man sich vor Augen hält, in welchem Maße das außerdeut-
ten Seite (7) beginnt! sehe Freikirchcntum Gestalten hervorbrachte, die es wagten,
gegen den Stachel zu locken und gerade deshalb den Anlaß zu
ließen Martin Greschat weitgehenden kirchlichen, politischen und sozialen Erneuerun-