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Ausgabe:

1992

Spalte:

363-365

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wehnert, Jürgen

Titel/Untertitel:

Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte 1992

Rezensent:

Burchard, Christoph

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 5

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die entsprechende (obstinate) dogmatische Aussage - beispielsweise
S. 389: „Nur vermittels des Kreuzesgeschehens, in dem
Gott sich selbst zu erkennen gibt, liegt dann sein neuschöpferisches
Handeln in Christus... Am Kreuz offenbart sich Gottes
Heilswille, indem er durch sein Handeln ,in Christus' gegenüber
den Menschen neu einsetzt und ihnen durch das Kerygma eine
neue Zusage gibt."

Allerdings sollte man den Vorwurf der zu großen Redundanz
wohl in erster Linie den Hgg. machen, die für die Veröffentlichung
dieser Dissertation eine Straffung mindestens um die
Hälfte hätten verlangen sollen.

Daß sie die Arbeit nicht sorgfältig gelesen haben, geht aus einer kleinen
Peinlichkeit hervor, die sie dem Vf. hätten ersparen können: Sehr häufig
werden griechische Begriffe im deutschen Satzzusammenhang mit falschem
Artikel versehen, z.B. S. 430: „Er allein ist der teXoc,..."; 441:
„Das ... Ttvofj war zu schwach"; 443: „in Bezug auf den Sarx"; 459: „legten
die paulinischen Opponenten großen Wert auf Xcr/oq oxxpi'ac,, die von
Weisheitslehren (sie!) verkündet wurden"; 518: „des Evangeliums als
,öeoü 8üvauiv Kai öeoC oxxpi'av' (1 Kor 1,24)". Derartige Fehler kommen so
häufig vor, daß es sich hierbei nicht um Versehen handeln kann.

Trotz allem enthält dieses Buch viele gute Ansätze, die einer
größeren Konzentration wert gewesen wären, so z. B. die Frage
der rhetorisch-pragmatischen Funktion und des religionsgeschichtlichen
Hintergrundes von 1 Kor 1,18-3,4. Der Vf. hat aber
zuviel gewollt.

Oldenburg Gerhard Sellin

Wehnen, Jürgen: Die Wir-Passagen der Apostelgeschichte. Ein
lukanisches Stilmittel ausjüdischer Tradition. Göttingen: Van-
denhoeck & Ruprecht 1989. VIII, 300 S. gr.8" = Göttinger
theologische Arbeiten, 40. Kart. DM 62,-.

Die geübten Bibelleser wissen, daß Lukas' Apostelgeschichte
ab K. 16 manchmal für eine Strecke ins Wir fällt, während abgesehen
von 1,1 sonst in der 3. Person ein unbeteiligter Erzähler zu
schreiben scheint, und die Wissenschaftler rätseln seit langem,
warum, wozu. Indiz für Erinnerungen des dabeigewesenen Verfassers
? Spuren einer schriftlichen Quelle fremder Hand? Eigener
Hand? Ein Stilmittel des Lukas, um der Form antiker Seereiseberichte
zu genügen? Um sich wenigstens streckenweise als Mitreisenden
zu stilisieren, weil Augenzeugenschaft als Historikertugend
galt? Um anzudeuten, daß er sich hier auf einen
Augenzeugen stütze, wahr oder bloß behauptet? Wer das Rätsel
löst, kann Schlüsse ziehen auf Lukas' Quellen, seine Schriftstelle-
rei, seine Person, deshalb ist die Sache wichtig. Aber Einigkeit
herrscht keine, Grund genug, das Thema in einer Dissertation
(bei G. Lüdemann) umfassend anzugehen.

W. macht vier Schritte:

A. Textkritische Analyse (5-46; Anmerkungen 205-209). Mit
textkritischen und ein paar vorläufigen formgeschichtlichen Erwägungen
bestimmt W. seinen Gegenstand genau. Nestle-Aland
26. Aufl. habe ein Wir (Verbform oder Pronomen) zu Unrecht sicher
in 16,13 (6vo|ii'Couev, richtig evou,i'£eto), möglicherweise in
20,7 (rjutöv, zu erwägen xtöv u,adr|Tu>v), 20,8 (^(iev, zu erwägen
faar) und 27,29 (ek7i6o-(uhev, zu erwägen acTieacuoiv). Es ergeben
sich drei Wir-Passagen, die drei klar abgegrenzte Etappen von
Paulusreisen schildern, nämlich Apg. 16,10-17 (Troas-Philippi),
20,5-21,18 (Philippi-Jerusalem), 27,1-28,16 (Cäsarea-Rom).
Das Wir läuft aber keineswegs durch die Wir-Passagen durch. Es
ist an bestimmte Textsorten, nämlich „Reiseberichte sowie kleinere
darin eingebettete Missions- oder Geschichtsberichte" gebunden
(45). Es ist auch das einzige Merkmal, das den Passagen
eine andere Erzählperspektive gibt als die ihrer Umgebung.

B. Zur Geschichte der Erforschung der Wir-Passagen (47-124;
209-245). Fazit des gründlichen kritischen Durchgangs ab Irenaus
(123): „Tatsächlich finden alle skizzierten Positionen ihre
aktuellen Verfechter, so daß die nach wie vor empfundene Lösungsbedürftigkeit
des Phänomens auf ein gänzlich unvereinbares
Lösungsangebot trifft" (wir haben heutzutage auch Gottesdienste
im Angebot, nur wenn schon, dann wären unvereinbare
Angebote wohl besser). Genauer: Da der Verfasser der Apg. nicht
Lukas war, obwohl W. ihn wie alle, die das denken, weiter so
nennt (ich auch), schreibt er in den Wir-Passagen nicht Selbsterlebtes
auf. Aus schriftlichen Quellen stammen sie auch nicht.
Eine redaktionsgeschichtliche Lösung mit überlieferungsgeschichtlichem
Unterbau scheint die wenigsten Schwierigkeiten
zu machen. Vielleicht vermutet E. Haenchen richtig, „daß Lukas
im ,Wir' den Zeugenanteil eines Gewährsmannes habe andeuten
wollen" (123). Bewiesen ist noch nichts.

C. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund der Wir-Passagen
(125-181; 245-259). Hier kommt W.s Lösung. Er erhärtet zunächst
, daß das Wir redaktionell ist (125-130). Wie Apg 16 zeigt
und die anderen Passagen bestätigen, soll mit ihm nicht eine bisher
ungenannte Person, auch nicht der Verfasser der Apg selbst,
eingeführt werden, sondern in ihm läßt Lukas eine der in den
Texten genannten Personen sprechen, wohl Silas (130-139).
Diese „Kollision zweier Erzählsubjekte (Autor-Ich vs. Wir-Ich)"
(142), die etwas anderes ist als das angekündigte Auftretenlassen
von Ich-Sprechern, sei der griechisch-römischen Erzähltradition
zuwider und deshalb kaum als solche erkannt worden. Dagegen
findet W. sie in vielen Parallelen aus der alt- und nachalttesta-
mentlichen Literatur, auf die z.T. schon E. Norden hinwies
(139-151). Lukas ist wahrscheinlich Esra und sicher Daniel verpflichtet
, vgl. besonders Apg 16 und Dan 6,29ff (152-158), zumal
er Daniel gut kannte (gegen T. Holtz) und womöglich auch sein
heilsgeschichtliches Periodenschema daher stammt (159-1 79).

D. Das lukanische „Wir": Funktion und Bedeutungeines Stilmittels
aus jüdischer Tradition (182-204; 259-265). Die durch
das Wir angedeutete Autopsie ist für Lukas ein Stilmittel neben
anderen, um zu unterstreichen, daß er zuverlässig berichtet. Das
erklärt aber noch nicht, warum er „Wir" sagt (die jüdischen
Parallelen sagen Ich), obwohl der Leser an einen Einzelerzählcr
denken soll, und warum nur an einigen Stellen, an anderen nicht.
W.s Lösung: das Wir schließt fast immer Paulus ein, und das soll
es auch. Lukas hätte in Apg 16-28 am liebsten Paulus selber erzählen
lassen. Einen Selbstbericht des Apostels hatte er nicht,
wohl aber für Teilstrecken mündliche Überlieferungen eines Paulusbegleiters
, wohl eben Silas, die W. dann noch etwas genauer zu
bestimmen versucht. Und so kamen verschiedene „Wir" in die
Apostelgeschichte, redaktionell gebildet, aber gerade auf diese
Art Zeugen für Tradition.

Ich habe das mit Respekt zur Kenntnis genommen, natürlich
auch mit Fragen. Las eine(r) damals wirklich ohne weiteres aus
den Wir-Passagen heraus, daß da ein bisheriges Objekt der Darstellung
anfängt zu reden und nicht der Darsteller? Dasselbe mu-
tatis mutandis bei den Ich-Partien des Danielbuches, und sind
die 4 Kapitel Dan 7-10 wirklich eine so enge Parallele zu dem
Dutzend Verse in Apg 16? Dies ist des Pudels Kern; stimmt er
nicht, ist der Pudel tot. Eine unerwartete Einzelheit: W. übernimmt
von F. Siegert, Unbeachtete Papiaszitate bei armenischen
Schriftstellern, NTS 27, 1981, 605-614, hier 606f, daß Papias
Lukas kannte (Lk 10,18 wird angeführt) und deutet damit die
Papiaszeugnisse neu: der Bischof habe Markus und Matthäus an
Lk 1,1-4 gemessen und dann das Evangelium wohl auch unter
Lukas' Namen gekannt (57-59). Das wäre beachtlich. Nur ist
m. E. ganz ungesichert, Zuschreibungsprobleme nicht gerechnet,
ob das nur armenisch erhaltene Zitat aus der hochmittelalter-
liehen Übersetzung des Apokalypsekommentars von Andreas
von Cäsarea überhaupt bis Lk 10,18 reicht. Vorher beruft sich der
Text auf „den Apostel", d.h. Paulus. Das klingt technisch (Siegert
scheint sogar an ein Corpus Paulinum zu denken). Pap'aS