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Ausgabe:

1992

Spalte:

313-315

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Franz-Xaver

Titel/Untertitel:

Religion und Modernität 1992

Rezensent:

Wagner, Falk

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 4

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über die Rolle der Kirche zwischen Anpassung und Opposition daß die christlichen Konfessionen entgegen den von K. allzu pau-

oder über die Relevanz der Gruppen im Prozeß der Wende). Das schalisierten „Erwartungen der aufgeklärten Intelligenz" (24;

ändert jedoch nichts an der überzeugenden Anlage und Ausrich- vgl. I, 23, 55, 199, 214; differenzierter für die deutsche Aufklä-

tung dieser Studie. rung: vgl. 58 Anm. 73; 121) in der Moderne überlebt haben. Aber

andererseits erachtet K. diese sowohl in der soziologischen
Berlin Günter Krusche Fremdperspektive wie in der dogmatisch-theologischen Binnenperspektive
reflektierte Verkirchlichung als ambivalent, da sie
die amtskirchliche Organisation und ihre beruflichen Träger
Kaufmann, Franz-Xaver: Religion und Modernität. Sozialwis- sutä!ke; aber die individuell-personale Erfahrbarkeit der „Sinn-
senschaftliche Perspektiven. Tübingen: Mohr 1989. X, 286 S. haft'gkelt chr.sthcher Lebensvollzüge" (28) schwäche. Gle.ch-
8°. Kart. DM 58,-. won' macht das Fortbestehen des kirchlich organisierten Christentums
deutlich, daß der Zusammenhang von „Religion und
Der in Bielefeld lehrende Soziologe F.-X. Kaufmann (= K.) Modernität" (32-69) einer Neubestimmung bedarf. „Moderni-
stellt unter dem Titel „Religion und Modernität" 10 überarbei- tät", die K. weder als Epochenbegriff noch gesellschaftstheore-
tete und erweiterte Aufsätze zusammen, die zwischen 1984 und tisch versteht, vielmehr kultursoziologisch als „Bewußtsein und
'988 veröffentlicht worden sind. Wiederholungen und Über- Legitimation zunehmender Veränderbarkeit und Kontingenz"
schneidungen lassen sich zwar bei einer solchen Aufsatzsamm- (45) faßt, scheint nicht nur die dem Religionskonstrukt Zügelung
kaum vermeiden. Aber durch die Erweiterung und Über- schriebene Funktion der gesellschaftlichen Integration, sondern
arbeitung der Aufsätze gelingt es K. doch, einen ebenso auch das an Vergangenheit und Tradition orientierte Christen-
Perspektivenreichen wie durch kontinuierliche Problemstellun- tum überflüssig zu machen. Doch zeigt K. überzeugend, daß sich
8en geleiteten einheitlichen Zusammenhang herzustellen. Diese der religionssoziologische Allgemeinbegriff der Religion der Hy-
froblemstellungen, die K. in seiner „Einführung" (1-13) pro- postasierung archaischer Bewußtseinseinstellungen und Gesell-
Srammatisch vorbereitet, resultieren sowohl aus einer selbstkriti- schaftszustände verdanke. Diesem archaischen Bewußtsein bleichen
Sichtung religionssoziologischer Theorien als auch aus so- ben auch die Autoren verpflichtet, die angesichts der Krisen- und
z'ohistorischen Analysen der grundlegenden Veränderungen, Ambivalenzerfahrungen der Moderne die Rückkehr zum „Heili-
denen sich das westeuropäische und deutschsprachige Christen- gen" oder zum Mythos propagieren. Die exklusive Verhältnisbe-
lurn im Laufe der Neuzeit bis in die „postmoderne" Gegenwart Stimmung von Modernität und Religion, die einem reflexiven
ausgesetzt sieht. Der Absicht, seine Überlegungen „gleicher- Umgang mit den Folgeproblemen der Moderne nicht förderlich
Haßen an Soziologen wie an Theologen "(13) zu richten, verleiht ist, läßt sich K. zufolge nur durch den Rekurs auf die historische
K. dadurch Nachdruck, daß er die an abstrakt-funktionalen Kon- Positivität des Christentums in den westeuropäischen Gesell-
stnakten orientierte Religionssoziologie durch die Erinnerung Schäften überwinden. Dann wird deutlich, „daß eine andere als
ar> die Geschichte des europäisch-neuzeitlichen Christentums die in den christlichen Traditionen sich manifestierende Religion
ebenso zu korrigieren trachtet, wie er die Theologien auf die am- in unserem Kulturkreis bisher nicht zu gesellschaftlicher Wirkbivalenten
Folgen eines seit dem 19. Jahrhundert zunehmend mächtigkeit gelangen konnte, und daß diese in entscheidenden
inseitig verkirchlichten Christentums aufmerksam macht. „Es Punkten nicht demjenigen Religionskonzept entspricht, das die
Seht mir darum, gegen die Einebnungstendenzen funktionalisti- (sc.religionssoziologische) Diskussion voraussetzt" (68). Damit
Scher Religionsdeutungen ebenso wie gegen die Ausgrenzungs- beabsichtigt K. allerdings nicht, den Status quo des schon in sei-
tendenzen kirchlicher Selbstverständnisse die Vielschichtigkeit ner Ambivalenz aufgedeckten verkirchlichten Christentums festes
Phänomenbereichs und die soziale Mehrwertigkeit der zuschreiben. Vielmehr will er die zukünftigen Chancen des Chri-
christlichen Tradition im Kontext der westlichen Kulturentwick- stentums zugleich im Interesse einer Fortsetzung der Modernität
'Ur>g im öffentlichen Bewußtsein zu halten." (9) Diese doppelte ausloten. Damit hat er das zentrale Problem der Verhältnis-
Frontstellung gegen die funktionalistische Religionssoziologie bestimmung von Religion und Modernität erreicht, das auf die
und gegen das einseitig kirchlich organisierte Christentum und Frage zielt, „inwieweit die legitimierte Veränderlichkeit institu-
Se'ne Theologien kann K. allerdings nur dadurch beziehen, daß tionalisierter Kontrastprinzipien bedarf, die ... dennoch solche
er s'ch auf die weitgehend verschütteten Vorstellungen des kul- Veränderlichkeit allein erträglich machen" (69). Es ist zwar
tUr- und gesellschaftstranszendenten Glaubens eines „propheti- offensichtlich, daß die vor allem am mittelalterlichen Christen-
schen Nonkonformismus" beruft. tum gewonnenen, aber religionstheoretisch verallgemeinerten
Der Aufbau des Buches folgt der skizzierten Zielsetzung. Folg- Funktionen der Identitätsstiftung, Handlungsführung, Kontin-
lch diskutiert K. in den Kap. 1-3 (14-88) die entscheidenden genzbewältigung, Sozialintegration, Kosmisierung und Weltdi-
^°zialwissenschaftlich-religionssoziologischen Sichtweisen der stanzierung(84f) unter modernen Bedingungen nicht mehr allein
Zusammenhänge von Religion, Christentum, Kirche und Mo- von den Kirchen wahrgenommen und erfüllt werden. Gleich-
dernität. Das geschieht zugleich in der Perspektive der als „post- wohl neigt K. dazu, „den historischen Großreligionen zumindest
lodern" apostrophierten Bewußtseinseinstellung, die nicht nur für Europa immer noch einen erheblichen Potentialvorsprung
e'ne Auseinandersetzung der Moderne mit sich selbst ein- vor den meisten Phänomenen ,neuer Religiosität' zuzuspre-
Schließt, sondern überdies von den unübersichtlichen Phänome- chen" (88).

"er> einer „Wiederkehr der Religion" begleitet wird. K. hebt zu Während K. in den Kap. 1-3 das Verhältnis von Religion und

echt hervor, daß die funktionalistische Religions- und Wissens- Modernität unter grundsätzlichen religions- und kulturtheoreti-

s°ziologie dahin tendiere, den von inhaltlich-historischen Bezü- sehen Gesichtspunkten behandelt, gibt er in den Kap. 4-6 (88-

8en weitgehend gereinigten allgemeinen Religionsbegriff der Be- 171) eine „Situationsdiagnose" (9), durch die er sowohl die im-

lebigkeit und Inhaltslosigkeit preiszugeben. Diese durch einen plizite Bedeutung der christlichen Kirchen für die Entwicklung

°balen Gesellschaftsbegriff gesteuerte Sicht versucht K., durch des modernen Wohlfahrtsstaates (89-119) skizziert, als auch die

e Berücksichtigung der „Geschichtlichkeit menschlichen Zu- institutionell-rechtliche Verfaßtheit der beiden christlichen Kir-

mmenlebens" (18) so zu korrigieren, daß er die Entwicklungen chen in der Bundesrepublik Deutschland beschreibt (120-145).

^ rvorhebt, die zur „organisatorische(n) Verselbständigung der In der abschließenden Studie dieses Teils stellt er anhand der

^lrchen im Prozeß der Modernisierung" (27) geführt haben. Auswertung einer mit W. KerberundG. M. Zulehnergemeinsam

lese„ Verkirchlichung des Christentums" zeige zwar einerseits, durchgeführten empirischen Untersuchung „Ethos und Religion