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Ausgabe:

1992

Spalte:

289-291

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Detering, Heinrich

Titel/Untertitel:

Theodizee und Erzählverfahren 1992

Rezensent:

Theobald, Gerd

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 4

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der Kraft der Bewegung in diesen Jahren. Ähnliches gilt natürlich will, doch zugleich als seinen letzten Bürgen anruft. Der „Michel
für Erasmus' Verhältnis zur Reformation. Nur vor dem Hinter- Haas erscheint als ein ins Schelmengewand verkleideter Hiob."
grund der von Erasmus zurückgewiesenen Reformation einer- (42)

seits und der Angriffe der altgläubigen Kritiker andererseits läßt In der biographischen Erzählung „Das Geheimnis" wird der
sich ein einigermaßen lebensechtes Bild von Erasmus in den letz- von der Theodizeefragc geforderte Gesamtsinn des Weltgesche-
ten zwei Jahrzehnten seines Lebens skizzieren. hens derart negiert, daß diese Negation erkannt wird als Möglich-

Der Reiz des Buches liegt besonders in der Art und Weise der keitsbedingung poetischen Erzählens; denn indem der Erzähler
Auseinandersetzungen. Die Autorin versteht die hohe Kunst, fes- selbst davon entlastet ist, einen gemeinsamen Einheitsgrund hin-
selnd zu schreiben. Sie beschreibt nicht nur Bücher, sondern ter allem Weltgeschehen erkennen zu müssen, kann er sich desto
Menschen, Konflikte, Freundschaften, Haß und Verbitterung. ungehinderter der Darstellung des bis zur Disharmonie bunten
Die Erasmusforscher mögen sich über dieses Buch freuen! Welttreibens widmen. Dem Weltschöpfer mag das Weltgesetz bewußt
sein; dem Erzähler entzieht es sich hinter einen „ eschatolo-
Amsterdam Cornelis Augustijn gischen Horizont" (53) des bewußten Nichtwissens dieses Weltgesetzes
, das erst die über alle Geschichte gehende Zukunft
offenbaren wird. Die Erzählung „Im Siegerkranze" individualisiert
die eschatologische Negation eines aktuell erkennbaren
Christliche Kunst Und Literatur Weltsinnes im Leiden einer Einzelfigur. Die christliche Passion

wird hier als Erzählmodell wiederholt: „die Grenzlinie zwischen
eschatologischer Jenseitigkeit und unerlöster Diesseitigkeit
Ottering, Heinrich: Theodizee und Erzählverfahren. Narrative , ht]miUendurchdjekonkrete Geschichts-Erfahrung"(67).
Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raa- ~ def yf dje Auflös der auktorialen,

bes. Gottingen: Vandcnhoeck & Ruprecht 1990. 289 S.gr.8 = " .j, D„„k„ „„u. j;„

PqI,».. ioo nu« a wissenden Erzahlperzeption im Spatwerk Raabes nach, die

ralaestra, 289. Kart. DM 68,-. . ,, _ „"__,. ,A .... . ■ ■ .„ ,,,„,,

unvermittelbare Gegensätzlichkeit erzählerisch typisierter Welt-

Deterings Dissertation, die bei dem Göttinger Germanisten bilder der Protagonisten erzeugt eine Multiperspektivität des Er-
Albrecht Schöne angefertigt wurde, untersucht den Einfluß, den zählten (109; 126), so daß sich der Erzähler als letzt verbindliche
theologische Konzeptionen auf die Erzählkunst Raabes ausüb- Instanz aus seiner eigenen Erzählwelt selbst verabschiedet. Der
ten. Im einleitenden Forschungsbericht resümiert der Vf. das Di- Vf. versäumt es aber, diesen Vorgang ausdrücklich auf die Theo-
•emma, in dem die theologisch ambitionierte Raabeforschung dizee zu beziehen: mit der fiktionalen Allwissenheit des aukto-
steckt. Auf dereinen Seite wurden zu schnell metaphysische Uni- rialen Erzählers wird der metaphysische Ort der Theodizee, die
versalplätze im Raabeschen Werk kurzgeschlossen mit einem ab- Erkenntnis der Welttotalität im selbstreflexiven Wissen, preisge-
solut verbindlichen Weltbild. Eine „göttlich geordnete" Weltvor- ben. In dem Roman „Stopfkuchen" überträgt Raabe die Herr-
sehung (Pongs, vgl. 17) wurde zum Prinzip der Wahrheit der schaft des Subjektes, die ursprünglich dem Erzähler über seine
Kaabeschen Dichtung wie auch ihrer Interpretationen. Die belie- Welt zukam, nun der Hauptfigur, die nicht nur ihre eigene Welt
b'ge Ideologisierbarkeit des absoluten Wahrheitspostulates ließ außerhalb der städtischen Gesellschaft machtvollkommen er-
jede religiöse Deutung von Raabes Dichtung mit ideologischer richtet, sondern auch ein göttliches Gnadengericht über die Stadt
Fälschung gleichsetzen (Schlaffer, vgl. 11). Der Vf. beabsichtigt bringt, indem er eine lang verjährte Mordgeschichte aufdeckt,
daher zurecht, theologische Konzeptionen nicht als Ideologem und alle falschen Verdächtigungen Lügen straft. Der Vf. sieht in
des Dichters und eines überspannten Wahrheitsanspruches zu dem allem eine „radikale Subjektivität" (207) wirken, die das
Erstehen, sondern als „konstitutiv... für Zustandekommen und Defizit der ungelösten Theodizeefrage durch „Selbstvergottung"
Beschaffenheit seiner Texte; ihr primäres Interesse richtet sich des Subjektes kompensiert. Analoges geschieht nach Detenng in
also auf die narrati ven Strukturen ... des Werks" (22). Raabes letztem vollendeten Roman: Die „ Konsequenz der Plu-
Detering sieht Raabe in seinen Werken bewußt nach mythi- ralität einander annullierender metaphysischer Modelle" ent-
schen, literarischen und theologisch reflektierten Strukturen der- mächtigt Religion insgesamt als „strukturbestimmende Kraft"
art verfahren, daß die poetischen Realisate solche strukturellen (236), so daß auch hier die Multiperspektivität die eine, wahr-
V°rgaben reflektieren als versuchsweise Antwort auf das meta- heitsbestimmende Weltsicht des auktorialen Erzählers ablöst. Er-
Physische Spitzenproblem: die Theodizee. Raabe operiert mit satz wird geschaffen durch die poetische Illusionskraft. Die Idyl-
verschiedenen Modellen - so die überzeugende Hypothese des lik Geßners ist hier das Vorbild, in der die dichterische Phantasie
Vf s - um ihre Stichhaltigkeit zu erproben gegenüber dem Theo- sich und die Welt in der Erzählung zu einer (zweiten) „selbstrefle-
d'zeeproblem, das sich im 19. Jh. als Frage nach einer verbindli- xiven Naivität" sublimiert. Die „Neufunktionalisierungder Poeehen
Weltordnung und ihrer Erkenntnisbedingung formulierte. sie" erweist sich als eine „ironisch-negative Hypostasierung des
Die Erzählmodelle werden im poetischen Prozeß problematisiert erzählenden Subjektes zum über seine erzählte Welt verfügenden
Zum Reflexionsmedium der Theodizee, so daß der poetische Text alter Deus" (244).

Se|bst eine immanente Signatur erhält, die auf diese theologische Die Interpretation ist zu einseitig auf die Verabsolutierung des

Pr°blematisierung verweist (220- Subjektes gerichtet. Dem widersteht zum einen, daß .Stopfku-

Der Vf. arbeitet durch klare Analysen verschiedener Raabe- chen' eine ausnehmend ironische Wirkung entfaltet: einmal

Scher Erzählwerke die impliziten Modelle heraus und taxiert ihre indem er aus dem verrufenen Mörderhof extra muros, den er

theologische Bedeutung. Das erste Beispiel „Aus dem Lehrbuch übernimmt, ein Friedensidyll macht; zum anderen ist seine Ein-

des Schulmeistcrlcins Michel Haas" orientiert sich am literari- kehr in die Stadt der messianischen Parusie nachmodelliert, die

Schen Vorbild der pietistischen Autobiographie (27f). Die dafür gerade keine Selbstverabsolutierung des Richters bringt, sondern

Epische Reihung von Anfechtungen und ihre teleologische Über- die gnädige Erlösung von der Spannung, die der bislang ungelöste

w,ndung im festen Gottesvertrauen wird durch eine andere Gat- Mordfall über die städtische Gemeinschaft brachte. So auch in

tUn8 konterkariert: den Schelmenroman. Die Überlagerung bei- .Hastenbeck': der Auflösung des fingiert absoluten Subjektes, des

der Modelle (Welt unter dem Zeichen der Vorsehung oder der auktorialen Erzählers als richterliche Instanz der Theodizee kor-

0ptuna) ist der paradoxen Gotteserkenntnis des leidenden Hiob respondiert eine Sakralisierung des poetischen Schaffensaktes

"üehgebildct, der denselben Gott, den er als Schuldner seiner selbst, der von der Theodizeefrage erlöst: das Subjekt ist nicht

em heillosen Glückslauf ausgelieferten Schöpfung verklagen mehr einer verborgenen Weltordnung absolut verpflichtet, viel-