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Ausgabe:

1992

Spalte:

256-257

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Evangelische Frömmigkeit 1992

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 4

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nation, auf die seelsorgerliche Begleitung (175ff). Offensichtlich erscheint
die Vorstellung nicht gänzlich abwegig, daß die Kirche auch anders sein
könnte, ja es manchmal sogar ist, als es das Bild besagt, das die meisten von
ihr mit sich herumtragen.

Die abschließenden „theologischen Grundsatzüberlegungen"
setzen ihren Akzent denn auch völlig zurecht auf die Kontrastsymptome
, die sich im empirischen Befund zeigen. „Kirche" ist
vorwiegend ein „Reizphänomen", ein „hochaktiver kollektiver
Komplex" (240). Dennoch gibt es auch positive Ansatzpunkte
für kirchliches Handeln. Sie sind dann gegeben, wenn es der Kirche
gelingt, ihr doktrinäres Image dadurch zu unterlaufen, daß
sie sich selber für vielfältige individuell-religiöse Selbstdeutungsinteressen
öffnet, freilich ohne sich - vor allem in ethischpolitischer
Hinsicht - in purer Unverbindlichkeit zu verlieren
(252).

Entscheidend gilt es jedenfalls, die komplexen, auf Differenzierung
und funktionale Spezialisierung gehenden Wandlungsprozesse
im Verhältnis von Religion, Kirche, Universität und
Gesellschaft im Auge zu behalten. Denn im Zuge dieser Wandlungsprozesse
hat sich auch »die« Universität als homogenes
Kommunikationsfeld aufgelöst. So kann es jetzt auch nicht mehr
»die« Arbeit der Kirche an der Universität geben, sondern nur
eine Vielfalt kirchlicher Arbeitsformen auf einem höchst unübersichtlich
gewordenen Universitätsgelände. „Differenzierung",
so folgert die Studie völlig richtig, muß nun auch das Losungswort
für die kirchliche Arbeit sein: offenes Angebot personaler
Gemeinschaft, Gelegenheit zur Freizeitgestaltung, Gruppen für
politisch-soziales Engagement, wissenschaftlich-kulturell-religiös
orientierte Diskussionsforen, Gottesdienst und Meditation,
seelsorgerliche Hilfe und lockeres Arrangement von Begegnungsgelegenheiten
(284).

Reicht die herkömmliche Präsenz der Kirche an der Hochschule
in Gestalt vor allem der Studentengemeinden aus, um die
notwendigen Differenzierungsanforderungen zu erfüllen? Das ist
die entscheidende Frage, die die Studie zuletzt zu bedenken gibt.
Und sie neigt dazu, diese Frage eher zu verneinen. Denn die Studentengemeinden
sieht sie ausgerichtet vor allem auf die Bildung
von (meist kleinen) Erlebnisgemeinschaften, auf die Pflege eines
intimen Gruppenmilieus, auf die persönliche Seelsorge. Dieses
Angebot ist wichtig und verleiht den Studentengemeinden auch
ihr spezifisches Profil. Aber es darf nicht alles sein. Denn es
ist der Offenheit kirchlicher Arbeit eher abträglich. Vor allem
aber erschwert es die Ausbildung einer dem komplexen Wissenschaftssystem
sowohl kompatiblen, wie seine Defizite erfolgreich
kompensierenden Reflexionskultur. Dafür aber sollte die Präsenz
der Kirche an der Hochschule heute primär einstehen.
Die von der EKD-Synode im November 1990 weithin übernommenen
„ Empfehlungen " der Studie (318ff sowie 15 ff) laufen deshalb
im Kern auf die Etablierung neuer Formen der institutionellen
Präsenz der Kirche an der Hochschule hinaus. Diese sollen
sich orientieren am Vorbild der Evangelischen Akademien, nur
daß solche Akademiearbeit nun am Ort der Hochschule und in
Kooperation mit Hochschullehrern, Studentengemeinden und
Hochschulgruppen erfolgen soll.

Die Empfehlung, kirchliche Arbeit an der Hochschule so zu organisieren
, daß sie „die Funktion von evangelischen Hochschulakademien
erfüllen könnte" (323), dürfte in der Tat in die richtige
Richtung gehen. Sie würde den Versuch bedeuten, 1. das
interdisziplinäre Gespräch auf die Basis einer breiteren Öffentlichkeit
zu stellen, 2. die aus der Universität weithin ausgewanderte
gesellschaftspolitische Diskussion wieder in sie hineinzunehmen
, 3. in der technologisch funktionalisierten Hochschule
eine das Interesse des Humanum verfolgende religiöse Reflexionskultur
aufzubauen.

So könnte es möglicherweise zu einem den sozio-kulturellen Veränderungen
Rechnung tragenden, sich auf kritisch-konstruktive Weise an ihnen

abarbeitenden Dienst der Evangelischen Kirche an der Hochschule kommen
. Die Kirche würde nicht nur ihren Auftrag zur lebensdienlichen Kommunikation
des Evangeliums am Ort der Hochschule, also in einem für die
Entwicklungsfähigkeit des Gemeinwesens hochrelevanten gesellschaftlichen
Teilsystem faktisch wahrnehmen. Sie würde dabei so agieren, daß sie
dort als hilfreiche Intervention auch tatsächlich verstanden und akzeptiert
werden kann.

Es legt sich lediglich der Einwand nahe, ob denn „ solche akademieartigen
Einrichtungen", von denen nun gelten soll, daß sie nicht nur in der
Form von Expertengesprächen bestehen mögen, sondern in denen auch
„Gelegenheit zur informellen Begegnung in Clubatmosphäre" gegeben
sein soll, ja, die sogar um einen „psychosoziale(n) Beratungsdienst und
Seelsorgeangebote" zu erweitern wären (323), tatsächlich eine wesentlich
andere Form der Präsenz der Kirche an der Hochschule bedeuten, als sie
mit den Studentengemeinden bereits gegeben ist. Gewiß, eine notwendige
Akzentverlagerung ihrer Arbeitsformen dürfte es für viele Studentengemeinden
zur Folge haben: Weg von der oft bornierten Pflege enger
Erlebnisgemeinschaften, hin zur Ausbildung einer der Offenheit und Differenziertheit
wissenschaftlicher Diskurse entsprechenden religiös-theologischen
Reflexionskultur, Etablierung von Diskussionsforen und interdisziplinären
Projekten also, in Zusammenarbeit mit Hochschullehrern und
anderen Hochschulgruppen.

Die Studie läßt jedoch selber die Gründe dafür erkennen, weshalb
der Aufbau einer solchen Reflexionskultur am Ort der
Hochschule mit der Pflege persönlichkeitsbildender, zur Lernfähigkeit
allererst verhelfender Erlebnisgemeinschaften verklammert
bleiben muß. Die Einrichtung eines Bildungsangebotes
(und sei sie noch so wissenschaftsförmig) bedeutet nicht schon,
daß dieses Angebot individuell auch wahrgenommen wird. Wird
eine solche Einrichtung von der Kirche unterhalten, so steht ihrer
Resonanz zudem das von der Studie aufgewiesene Einstellungs-
syndrom entgegen, wonach Kirche und Religion mit den eigenen
Weltanschauungspräferenzen gerade unverträglich erscheinen.
Vor aller individuellen Inanspruchnahme kirchlicher Bildungsangebote
liegt, so muß man daher auch sagen, eine tiefsitzende
Lernblockade auf der Seite derer, für die sie bestimmt sind. Und
diese Blockade kann nur abgebaut werden durch eine wiederum
persönlich prägende Erfahrung mit einer „anderen" Kirche.
Dazu braucht es die Studentengemeinden. Ihre Attraktivität also
gilt es zu stärken. Sie gilt es aus- bzw. umzubauen zum Erfahrungsort
einer anderen, offenen, Individualität und Pluralität in
sich integrierenden Kirche. Sie sind es, die eine konzeptionelle
Auslegung in der von der Studie gewiesenen Richtung brauchen
und vor allem solche amtlich in ihr Tätigen, die die Kompetenz
mitbringen, sie - in Kooperation sowohl mit den an der Hochschule
Lernenden wie mit den dort Lehrenden - auch zu realisieren
.

Göttingen Wilhelm Gräb

Fleischmann-Bisten, Walter: Evangelische Frömmigkeit, im
Lichte der Reformation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1991. 152 S. 8 J = Im Lichte der Reformation - Jahrbuch des
Evangelischen Bundes, XXXIV.

Das Jahrbuch bringt Vorträge, die auf der Generalversammlung
des Evangelischen Bundes in Goslar im Herbst 1990 gehalten
worden sind. Das Gesamtthema „Evangelische Frömmigkeit
" war gewählt worden, da dieser Begriff „zu einem Tabu z11
werden" droht (3). Hans-Martin Barth erarbeitete Kriterien
evangelischer Frömmigkeit unter der Überschrift „Gemeinsam
im Glauben und in der Liebe wachsen " (5-24). Er erinnert an die
„ Erfahrung, daß es etwas ungemein Wohltuendes ist, am Morgen
das Bibelbuch aufzuschlagen und sich da zuhause zu finden auf
ewigem Grund" (22). Evangelische Frömmigkeit hat aber auch
„von römisch-katholischer und orthodoxer Spiritualität zu lef'
nen" (24). Heinrich Leipold bietet 2 beeindruckende Bibelarbe'-