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Ausgabe:

1992

Spalte:

251-256

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Der Dienst der Evangelischen Kirche an der Hochschule 1992

Rezensent:

Gräb, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 4

252

relativiert die ohne Zweifel ebenfalls vorhandenen Bedenken,
während die Enzyklika sehr viel grundsätzlicher vor einer Demokratie
„ohne Werte" warnt.

Was schließlich die Auseinandersetzung mit dem Marxismus
betrifft, so führt die Enzyklika diese weiter (natürlich besonders
bezüglich des Atheismus), während die Denkschrift auf solche
Kritik fast völlig verzichtet (vgl. aber Anhang A). Dieser Unterschied
hängt gewiß u. a. damit zusammen, daß der katholische
Text (nicht zuletzt infolge der Erinnerung an „Rerum Novarum
") eingehender mit der Geschichte (einschließlich der neuesten
seit 1989) beschäftigt ist.

4. Schlußfolgerungen:

1. Durch das Erscheinen der evangelischen Denkschrift ist der
Abstand zwischen katholischer und evangelischer Wirtschaftsethik
geringer geworden. Es bleibt zu hoffen, daß das ökumenische
Gespräch, das in beiden Dokumenten praktisch nicht stattfindet
, dennoch weiter gefördert wird, zumal sich in der Sache
Annäherungen nachweisen lassen.

2. Im Mittelpunkt einer Wirtschaftsethik steht die Forderung
nach Gerechtigkeit, die aus der Wirtschaft selbst nicht entwickelt
werden kann. Deutlicher als dies in beiden Texten geschieht, muß
die strukturelle Ungleichheit gesehen werden, die nicht in gleicher
Weise überwunden werden kann, wie das im Bereich des
Staates prinzipiell durch Demokratisierung möglich ist. Daher
ist die Unterscheidung von Menschengerechtem und Sachgerechtem
sinnvoll.

3. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe ist hinsichtlich
der Wirtschaftsethik weiter zu bedenken. Es ist gründlich zu prüfen
, ob für diesen Bereich das Liebesgebot ohne Vermittlung geltend
gemacht werden kann. Solche Vermittlung wurde in der
Denkschrift durch eine Art Überführung in rationale Kategorien
versucht. Eine andere Möglichkeit bestünde wohl in der Unterscheidung
von Ordnung, Gerechtigkeit und Liebe.

4. Wie alle Formen menschlichen Zusammenlebens bedarf
auch die Wirtschaft (die unbedingt unter dem Primat des Zusammenlebens
und nicht nur des Zusammenarbeitens gesehen werden
sollte) zunächst der Ordnung als der äußeren Weise, Gemeinschaftsarbeit
zu organisieren.

5. Ordnung (nach Zahl, Umfang Funktion usw.) garantiert
noch keine Gerechtigkeit und führt auch nicht von sich aus zu
solcher. Gerechtigkeit heißt: Gleichheit sowie Überwindung vermeidbarer
Ungleicheit durch Teilen, Beteiligen, Schutz und
Hilfe. Für die Wirtschaft erscheint der Anteil unvermeidbarer

Ungleichheit größer als in anderen Lebensbereichen (Arbeitgeber
- Arbeitnehmer; Produzent - Konsument; Kapital - Arbeit;
Eigentum - Eigentumslosigkeit; Angebot - Nachfrage usw.).
Politisch gewaltsame Versuche, solche Ungleichheiten aufzuheben
, sind bekanntlich gescheitert.

6. Liebe überbietet (und relativiert) Gerechtigkeit; sie ist nicht
an der Gleichheit, sondern an der Besonderheit von Beziehungen
) orientiert gemäß biblischem Verständnis. Von daher kann
gefragt werden, ob (und gegebenenfalls wie) Liebe geeignet sei,
nichtvermeidbare Ungleichheiten dennoch zu überwinden oder
wenigstens zu mildern.

7. Wirtschaftsethik ist also als solche keine Liebesethik - das
wäre eine Phrase! Es ist schon viel erreicht, wenn ihre Ordnung
durch Gerechtigkeit reguliert wird, was bei dem zunehmenden
Ineinander menschlicher, technischer und finanzieller Gesichtspunkte
immer schwieriger wird. Wenn es darüberhinaus gelingt,
innerhalb des wirtschaftlichen Handelns von Menschen Beispiele
der (Nächsten-)Liebe, nach biblischem Verständnis mit
Verzicht und Risiko verbunden, zu verwirklichen, dann ist nicht
zuletzt auch das Erscheinen von Enzyklika und Denkschrift
schon aus diesem Grund nicht umsonst gewesen. Beide gipfeln ja
im Liebesgebot!

8. Es sollte auch überlegt werden, ob es bei dem christlichen
Verzicht auf konkrete Wirtschaftsmodelle bleiben muß. Auf die
Dauer wird die Haltung der Kritik an Wirtschaftssystemen nicht
ausreichen, zumal die Frage einer konkreten, wenn auch nicht
unbedingt christlichen Wirtschaftsethik zunehmend auch außerhalb
der Kirchen diskutiert wird, worauf die Denkschrift hinweist
. Das alles würde allerdings auch voraussetzen, sich mit
neuen Wirtschaftstheorien auseinanderzusetzen, was in beiden
Dokumenten nicht geschieht. Das schmälert aber nicht den Dank
für die vorgelegten Texte.

1 Johannes Paul IL: Vor neuen Herausforderungen der Menschheit. Enzyklika
„Centesimus annus" Papst Johannes Pauls II. Kommentar von W.
Kerber. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1991. 176 S. 8°. Kart. DM 19,80.

Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung
Tür die Zukunft. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche i"
Deutschland. Im Auftrag des Rates der Evang. Kirche in Deutschland hg.
vom Kirchenamt der EKD. Gütersloh: Mohn 1991. 185 S. 8 .

2 Vgl. die ökumenischen Pläne für eine Europäische Sozialcharta.

3 Die in Klammern gesetzten Zahlen weisen zu beiden Texten auf die
durchnummerierten Abschnitte hin, die in allen Ausgaben übereinstimmen
- im Unterschied zu den Seitenzahlen.

Allgemeines, Festschriften

Der Dienst der Evangelischen Kirche an der Hochschule. Eine
Studie im Auftrag der Synode der EKD. Hg. vom Kirchenamt
der EKD. Gütersloh: Mohn 1991. 328 S. 8°. Kart. DM 29,80.

In der Reihe der kirchlichen Mitgliedschaftsuntersuchungen
liegt nun, nach den beiden generellen EKD-Umfragen über Kirchenmitgliedschaft
von 1974 und 1984, eine spezielle empirische
Untersuchung über das Verhältnis der an den Hochschulen der
Bundesrepublik Deutschland (West) Studierenden zur Evangelischen
Kirche vor. Zu einem erheblichen Teil jedenfalls kann die
vorliegende Studie als derjenige Beitrag zur kirchlichen Mitgliedschaftsforschung
angesehen werden, der speziellere Auskunft zu
geben vermag über das Selbstbild, das junge Erwachsene auf
einem formal höheren Bildungsniveau von ihrem Verhältnis zur
Kirche haben. Allein, einen differenzierenden Beitrag zu den
kirchlichen Mitgliedschaftsuntersuchungen zu geben, lag nicht
im ausschließlichen Interesse dieser Studie, weshalb sie sich selber
auch nicht in der Reihe dieser Forschungsunternehmen verortet
. Sie war vielmehr von der EKD-Synode im November 1986
in Auftrag gegeben worden, um der kirchlichen Arbeit an den
Studierenden, wie sie vor allem von den Studentengemeinden
und Studentenpfarrern geleistet wird, seinerzeit aber gerade auf
EKD-Ebene auch Anlaß zu manch heftigem Streit bot, eine kritische
Orientierung zu geben. So enthält die Studie denn auch über
den empirischen Teil hinaus, einerseits eine Analyse der Studienbedingungen
, der Bildungssituation im Kontext der Hochschule,
andererseits grundsätzliche theologische und organisationspragmatische
Überlegungen zur Zielsetzung und Durchführbarkeit
kirchlicher Arbeit, nicht nur in Gestalt der Seelsorge an den Studierenden
, sondern am Ort der Hochschule und damit im Zusammenhang
des Wissenschaftssystems überhaupt.

Die Studie wurde in mehreren Schritten ausgearbeitet. Sie enthält 1. eine
Dokumentation des Standes der Hochschulforschung hinsichtlich der Situation
der Studierenden an den Hochschulen (Kap. 1 u. 2, Teil A); 2. ein«
schriftliche Befragung der Studentengemeinden und Studcntcnpfarref
sowie das Ergebnis einer Konsultation mit rund 40 Vertretern von Stüde""
tengemeinden und Studentenpfarrern (Kap. 1, TeilC); 3. Experteninterviews
zur Situation der Studierenden und zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
der Hochschule (Kap.2, TeilC); 4. eine empirische