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Ausgabe:

1992

Spalte:

220-222

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eberhardt, Hermann

Titel/Untertitel:

Praktische Seel-Sorge-Theologie 1992

Rezensent:

Beyer, Franz-Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 3

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history" die Subjekthaftigkeit älterer Menschen beim Erzählen
zur Geltung bringt (106ff).

Gegenwartsbezogenheit wie Subjektzentrierung prägen auch
jene beiden Kapitel, die den Mittelpunkt und den Höhepunkt
dieses Bandes bilden. Zulehner hat die Probleme von Ehe und
Familie als „Aufbau und Abbau kleiner Lebenswelten" dargestellt
(134ff, 182ff) und damit von seinem wissenssoziologischen
Ansatz her eine Begrifflichkeit eingeführt, die sowohl den verbreiteten
Wunsch nach einer glücklichen Beziehung als auch das
sichausbreitende Scheitern dieses Wunsches verständlich zu machen
vermag. Im Zuge der neuzeitlichen Individualisierung aller
Lebensbereiche hat sich ergeben, „daß aus dem sozial zugewiesenen
Ehestand bewegte individualisierte Ehegeschichten werden"
(155). Für den Aufbau wie beim Abbau solcher Lebenswelten ist
deshalb das „ Seelsorgsprinzip vom Leben im Schalom" zu beachten
(199). Weil Ehen heute „nicht an der Instabilität der
Liebe, sondern an der Unfähigkeit vieler zur wahren, entfalteten
Liebe" (181) zerbrechen, ist mystagogische Ehe-Vorbereitung
unumgänglich: „ Die Liebe tendiert zur Maßlosigkeit. Ja, sie darf
und muß, theologisch gesehen, zu ihr tendieren. Bleibt sie doch in
ihrem innersten Wesen auf Gott gerichtet. Dadurch aber trägt sie
den Keim der Selbstzerstörung in sich. Deshalb bedarf es, soll die
Liebe zwischen endlichen Menschen gelingen, einer bedachten
Kultur der Liebe" (179). Es gibt auch protestantischerseits wenig
Texte, die so genau, so soziologisch und psychologisch und theologisch
fundiert, gegenwärtige Beziehungsschwierigkeiten wahrnehmen
helfen. Die evangelische Tradition wird hier nicht als
Norm zur Sprache gebracht, sondern als Hilfe zu einem gelingendem
Leben. Deshalb gilt generell: „Die herkömmliche Moral
braucht eine Vertiefung in Richtung Mystik und eine Ausweitung
in Richtung der Politik" (185).

Rituelle Bedürfnisse von Menschen und kirchlicher Auftrag
begegnen sich konkret am Ort der Gemeinde. Sie steht für Z., wie
er im 2. Band noch einmal grundsätzlich feststellt, „im Dienst
des Handelns Gottes an den Menschen. Sie ist daher nie Selbstzweck
, sondern ihr Grundamt ist Dienst an der Menschheit"
(71). Die Spannung von Kairologie und Kriteriologie wird hier
im Gegenüber von Tradition und Situation (75), im Weg vom
Prinzip zur Realisierung (70) erfahrbar. In sachlicher Hinsicht
vollzieht Z. die fundamentale Zuordnung folgendermaßen: „ Der
Sehnsucht der Menschen nach mehr Sinn entspricht die biblische
Berufung der Gemeinden, mystisch zu sein; - der Sehnsucht der
Menschen nach mehr Verläßlichkeit und Gemeinschaft entspricht
die biblische Berufung der Gemeinden, geschwisterlich
zu leben; - der Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit entspricht die
biblische Berufung der Gemeinden, politisch zu handeln" (82).

In den Kapiteln, die die „Wiederentdeckung der Gemeinde"
(13ff) und den „Gemeindeaufbau heute" (142ff) behandeln,
informiert der Vf. über viele Entwicklungen im römischkatholischen
Raum, die in unserer Kirche noch teilweise unbekannt
sind. Grundsätzlicher sind die Ausführungen zum
„Grundamt der Gemeinde" (70ff) und zu den Leitungsaufgaben
(175ff). Hier gibt es erstaunlich viele Berührungspunkte zur protestantischen
Ekklesiologie und Pastoraltheologie. Ein erhebliches
Defizit beider Kirchen benennen jene Abschnitte, die das
„Mysterium der Gemeinde" (83ff) und die „mystagogische
Kompetenz" der Amtsträger (1880 beleuchten. „Eine Kirchengemeinde
ist eine in Gott verwurzelte (= mystische) Gemeinschaft
von Menschen. Sie wird durch Menschen, die im Ge-heim-
nis Gottes da-heim sind und so der Un-heim-lichkeit des Lebens
entrinnen" (84f). Auch das „pastorale Grundschisma", das in
der Polarität von Klerus und Laien besteht (130ff), ist sicher kein
Spezifikum römisch-katholischer Gemeindepraxis, insbesondere
wenn man ernstnimmt, daß auch die Expertenkirche das
schismatische Grundmuster nur variiert (136ff).

Praktisch-theologisches Neuland betritt Z. mit dem 4. Band

seines Entwurfs, in dem er durch einen Dialog mit den entsprechenden
Humanwissenschaften eine „Pastorale Futurologie"
vorlegt. Das Schlüsselproblem, in dem sich aktuelle Krisen wie
christliche Hoffnungstraditionen begegnen, bildet „die Option
für eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen" (221).

Der Aufbau folgt dem futurologischen Dreischritt von Prognose
, Utopie und Planung (13ff). So analysiert der erste Teil, die
pastoralfuturologische Kairologie, mögliche Gefahrenpunkte der
künftigen Menschheitsentwicklung, nämlich die Friedensproblematik
(38ff), die Umweltfrage (50ff), das Verhältnis der Geschlechter
(75ff) sowie den Trend zur Informatisierung (103ff)-
Demgegenüber werden im zweiten Teil, der pastoralfuturologi-
schen Kriteriologie, „Christliche Hoffnungsressourcen" (131 ff)
benannt, wobei auch der Frage nach der kirchlichen Verantwortung
für die aufziehenden Desaster nicht ausgewichen wird
(133ff). Grundlegende Einsichten für die Zukunftsgestaltung hat
nach Meinung des Autors die Europäische Ökumenische Versammlung
mit ihrem Schlußdokument geliefert (170ff). Der
dritte Teil, die pastoralfuturologische Praxeologie (221 ff), greift
am Beispiel des Arnos zunächst auf die prophetische Zukunftspraxis
zurück (221 ff). Weiterführende Impulse ergeben sich aus
der traditionellen „Lehre von den himmelschreienden Sünden"
(242ff). „Zukunftsträchtige Handlungsweisen" betreffen Prozesse
der Bewußtseinsbildung, symbolische Handlungen und politische
Aktivitäten in den verschiedensten Formen (274ff).

Z. hat mit seiner „Pastoraltheologie" keinen systematischen
Entwurf im herkömmlichen Sinn vorgelegt. Er hat vielmehr auf
der Basis eines wissenssoziologischen Ansatzes, in ständigem Gespräch
mit außertheologischen Konzeptionen, aber auch in konzentrierter
Besinnung auf zentrale Glaubenswahrheiten, jene
Schwerpunkte kirchlicher Praxis herausgegriffen, an denen sich
die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche in der Zukunft entscheiden
dürfte. Wobei insbesondere der ständige Rückgriff auf
die mystischen Traditionen das kirchliche Handeln vor einem
blanken Aktionismus bewahren soll: „Allein aus einer solchen
vertrauten Nähe zu Gott kann die Kirche in unserer Zeit ihr prophetisches
Amt so ausüben, daß sie auch für die Welt zur Hoffnung
wird. Eine Kirche hingegen, die .ekklesialer Atheismus'
kennzeichnet, wird zu einer sozialen Macht unter vielen anderen
" (4/234).

Das Werk von Z. verdient auch protestantischerseits in Theorie
und Praxis große Beachtung.

Friedland Manfred Josuttis

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Eberhardt, Hermann: Praktische Seel-Sorge-Theologie. Entwurf
einer Seelsorge-Lehre im Horizont von Bibel und Erfahrung-
Bielefeld: Luther 1990. VI, 302 S. 8 . Kart. DM 26.-.

Die aktuelle Literatur zur Seelsorge ist mehrheitlich geprägt
von den Versuchen, humanwissenschaftliche Erkenntnisse zu integrieren
und sie als selbstverständliche Bestandteile einer christlich
motivierten Seelsorge bzw. Pastoralpsychologie darzustellen
. Diese Literatur stellt sich daher dialogisch ausgerichtet dar.
scheint beinahe unvorstellbar ohne den kontinuierlichen Dialog
mit den Human- und Sozialwissenschaften zu sein. Die Evidenz
dieser Ausrichtung ist unbestritten. Ein Problem ist jedoch in der
häufigen Dominanz human- und sozialwissenschaftlicher Termini
in dieser Literatur zu sehen, noch dazu, wenn deren Verbindung
zu theologischen Aussagen nur formal oder gar nicht gelingt
. Dem nicht so informierten, wohl aber interessierten Leser