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Ausgabe:

1992

Spalte:

191-192

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kosch, Daniel

Titel/Untertitel:

Die eschatologische Tora des Menschensohnes 1992

Rezensent:

Lührmann, Dieter

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191

Theologische Literaturzeitung 117. Jahrgang 1992 Nr. 3

192

Die methodische Bereicherung, die deutschsprachige Leserinnen
durch diesen Band erfahren, ist erheblich. Die kritischen
Fragen sollen zeigen, daß auch inhaltlich die Auseinandersetzung
mit ihm sich lohnt.

Laupen/Bern Ulrich Luz

1 Z. B. Art. Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie
IV.TRE 12, 1984, 598.

2 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus I, EKK 1/1, Neukirchen-
Zürich 1985, 23.

3 So U. Luz, Die Jünger im Matthäusevangelium, ZNW 62 (1971) 141-
171.

4 Diese hilfreiche Unterscheidung stammt von D. Patte, The Gospcl ac-
cording to Matthew, Philadelphia 1987, passim.

Kosch, Daniel: Die eschatologische Tora des Menschensohnes.
Untersuchungen zur Rezeption der Stellung Jesu zur Tora
in Q. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Van-
denhoeck & Ruprecht 1989. 513 S. gr.8 = Novum Testamen-
tum et Orbis Antiquus, 12. Lw. sFr. 98,-.

Angesichts des hohen Stellenwerts, den das Thema „Jesus und
die Tora" für die Jesusforschung besitzt, überrascht es zunächst,
daß eine entsprechende Untersuchung für Q bisher fehlt. Das hat
einen sehr einfachen Grund: Das Stichwort vöuoc, begegnet in Q
nur in Lk 16,16fpar. Mt 11,12 bzw. 5,18.' In Mk fehlt es freilich
ganz; doch sind dort viele der Streitgespräche Auseinandersetzungen
über Gesetzesfragen, was wiederum in den apophthegma-
tischen Bildungen der Logienquelle fehlt.

Die in ihrer literarkritischen Rekonstruktion recht komplizierten
beiden Aussagen über das Gesetz Lk 16,16f par. erweisen sich
für K. mit Recht als nicht systematisch gemeinte Sätze, die keinesfalls
einen Schlüssel für ein Gesetzesverständnis in Q bilden
(430 u. ö.). K. behandelt sie deshalb erst am Ende seiner Arbeit in
Kap. III (427-444). Seinen Ausgangspunkt wählt er in Kap. I
(61-212) vielmehr bei Lk 1 l,39b-41.42 par. Mt 23,25f.23, den
beider! Weherufen, Reinheit und Verzehntung betreffend.2 Die
bei Untersuchungen zu Q unvermeidlichen, vielleicht etwas zu
langwierig geratenen literarkritischen Analysen zeigen große
Sorgfalt und Umsicht ebenso wie Übersicht über die vorhandene
Literatur, und das gilt für das gesamte Buch. Insgesamt sieben
Exkurse sichern die Argumentation ab.

Das Ergebnis des Kap. I und damit auch der ganzen Arbeit:
„ Eine ausdrückliche Betonung der Gültigkeit der ganzen Tora erfolgt
nur dort, wo der Eindruck eines eigentlichen Gegensatzes
zur Tora oder zu einzelnen ihrer Gebote vermieden werden soll
(Lk 16,17; ll,42d). Im übrigen ist kein großes Interesse an der
„Gesetzesproblematik" feststellbar: Weder finden sich Anzeichen
dafür, daß die diesbezüglichen Implikationen einzelner Lo-
gien umfassend reflektiert wurden, noch erfolgt die Rezeption
und Kontextualisierung unter diesem Gesichtspunkt" (210f)-
Das klingt zunächst karg, widerlegt aber jedenfalls die These von
S. Schulz, Q sei geprägt durch eine „charismatisch-eschatologi-
sche Toraverschärfung", die in der Q-Forschung zwar nicht übernommen
worden ist, aber doch irgendwie unerledigt geblieben
war.3

Die Ausweitung der Untersuchung in Kap. II auf den Komplex
der Feindesliebe (213-426) Lk 6,27-36 par. Mt 5,38-48 bestätigt
dieses Ergebnis (z.B. 359), da die Antithese zum atl. Gebot der
Nächstenliebe erst von Mt hergestellt wird, nicht schon in Q
(oder von Jesus). Ich bin - mit guten Gründen, wie ich meine -
anderer Auffassung in bezug auf die Rekonstruktion des Q-Zu-
sammenhangs, auch in bezug auf die Frage, ob die Antithesenform
als solche auf Jesus zurückgeht, was K. für Mt 5,21f.27f
nachzuweisen versucht (Exkurs IV 258-288). Das beeinträchtigt

aber nicht die grundsätzliche Zustimmung, und auch das bereits
erwähnte Kap. III sichert durchaus das grundsätzliche Ergebnis.

Kap. IV (445-483) reflektiert die Ergebnisse der Untersuchung
, ursprünglich eine Dissertation in Fribourg. Der als Einwand
mögliche Hinweis auf die Versuchungsgeschichte Lk
4,1-13 par. Mt 4,1-11 kann damit zurückgewiesen werden, daß
dieser Perikope mit ihren ausdrücklichen Verweisen auf Gebote
der Tora auch sonst in der Literatur eine Sonderstellung eingeräumt
wird (451). Die Selbstkritik (455), hinter der methodisch
als nötig behaupteten Frage nach den Rezipienten der Texte zurückgeblieben
zu sein, zeugt m.E. von der Überlegenheit der
Texte über die Methoden.4

Wie aber kommt K. angesichts des kargen Ergebnisses, Q habe
kein großes oder besonderes Interesse an der Gesetzesproblematik
(210,359), zu dem programmatischen Titel des Buches? Er
entwickelt ihn (401 ff) aus der Analyse der Rede in Q. die der
Bergpredigt bei Mt und der lukanischen Feldrede zugrundeliegt.5
insbesondere aus deren Schluß Lk 6,47-49 par. Mt 7,24-27.
Zwar ist auch hier die Frage nach dem Verhältnis zwischen Jesus
und der Tora nicht ausdrücklich gestellt; doch meint K. mit Hilfe
traditionsgeschichtlicher Parallelen behaupten zu können, daß
für Q Jesu Rede sozusagen stillschweigend an die Stelle der atl.
Tora trete.6

Fraglich ist mir dabei einerseits die Gleichsetzung von KÜptoi;
und Menschensohn, zum zweiten die eschatologische Deutung
des Doppelgleichnisses am Ende der Rede, schließlich aber die
Übernahme des hebräischen Wortes Tora zur Kennzeichnung der
Verkündigung Jesu in Q, wenn vöuoc, (und Propheten!) denn in Q
einzig die atl. Überlieferung bezeichnet, nicht aber - und das ergibt
ja gerade diese Untersuchung - die in Q zusammengefaßte
Jesusübcrlieferung.

Ein sehr schönes Buch, das einmal mehr zeigt, wie die von Anfang
an internationale und interkonfessionelle neuere Q-Forschung
zu plausiblen Ergebnissen kommen kann. Ein Buch aber
auch, dessen Ziel die Frage nach Jesu eigenem Verhältnis zur
Tora hinter der Q-Überlieferung ist. Die Jesusforschung arbeitet
seit Generationen unter der Voraussetzung, Mk und Q (und die
Gleichnisse) seien die Quellen, Jesu Verkündigung zu rekonstruieren
. Zu den unabdingbaren Themen der Jesusforschung gehört
die Frage nach seinem Gesetzesverständnis. Weder Q noch Mk
geben darüber viel Aufschluß, die Gleichnisse auch nicht. Steht
vielleicht hinter der Jesusforschung doch immer noch das Bild,
das Mt entworfen hat, bei dem zwar Mk und Q verbunden sind,
nun aber ausdrücklich die Themen Gesetz und Gerechtigkeit in
die Überlieferung eingeführt werden?

Marburg/Lahn Dieter Lührmann

1 Mt 7.12 und 23.23 sind mt Red.

2 Vielleicht bedeutet es aber doch eine Verengung, daß nicht die anderen
Wcherufc mit einbezogen werden, die sich ja auch auf an der Tora orientierte
Lebenspraxis bezichen?

3 S. Schulz. Q. Die Spruchquelle der Evangelisten. Zürich 1972; vgl. die
Problemdarstcllungbei K. in der Einleitung (11-60).

4 Problematisch ist mir einstweilen die übergroße Betonung der Zw''
schenstufen Qml und Qlk, die K. übernimmt von M. Sato(Q und Prophet^-
WUNT 2/29, 1988) und U. Luz (Das Evangelium nach Matthäus I, EKK
1/1. 1985).

5 Wohl kaum läßt sich aber für die Einleitung uaönrai rekonstruieren-
da so sonst nirgends in Q - im Unterschied zu Mk - die Nachfolger Jesu bc
zeichnet werden.

6 Gegenseitig anzugleichen sind nun die Ergebnisse von K. und von J."
Kloppenborg. The Formation ofQ.StAC, 1987 (vgl. dazu ThLZ 113. 1988-
435-437: das dort erwähnte Buch ist erschienen als: Q Parallel!. Synops|S'
- Critical Notes, and Concordancc, Sonoma/Calif. 1987 - ein unverzich1'
bares Hilfsmittel für alle Q-Forschung).