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Ausgabe:

1991

Spalte:

131-132

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Viller, Marcel

Titel/Untertitel:

Aszese und Mystik in der Väterzeit 1991

Rezensent:

Heidrich, Peter

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131

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 2

132

Overbecks Basler Antrittsvorlesung von 1870 wird als das Scheitern
der Harmonie von Glauben und Wissen interpretiert - von Baur wird
nur die „rein historische" Betrachtungsweise, nicht die auf Hegel sich
gründende Religionsphilosophie übernommen (62). Aber die in Overbecks
„Christlichkeit" von 1873 noch ins Auge gefaßte „kritische
Theologie", welche nun umgekehrt die Disharmonie von Glauben
und Wissen zu zeigen hätte, ist nach Eberlein ebenfalls gescheitert. Es
ist offenbar existentiell unmöglich, zugleich als „kritischer Theologe"
im (damaligen) Sinne Overbecks die Alleingültigkeit der Wissenschaft
zu vertreten und daneben einen Gemeindeglauben zu stärken, der laut
Overbeck „Kinderglaube" ist und sein soll.

Das Scheitern des Kirchenhistorikers Overbeck an der Geschichte
wird in den drei Elementen Literaturgeschichte, Formengeschichte
und Theologiegeschichte (76ff) in der Weise geltend gemacht, daß
Overbeck die in der Bibel hervortretende „Heilsgeschichte" negiere,
mit „heillosem Distanzpathos" (95) an die Geschichte herantrete und
eine „Elimination der universalgeschichtlichen Sinnperspektive" vornehme
(122).

Als lebensgeschichtlich Gescheiterter erweise sich Overbeck durch
das Stagnieren seiner Biographie (131 ff). Nicht zutreffend ist jedenfalls
die Behauptung, daß Overbeck als Ausdrucksform zuletzt nur der
Aphorismus geblieben und daß seine Sprache „bekenntnisartig" geworden
sei (147). Mit der überzogenen These vom „Verlust des Ich"
(140), vom Persönlichkeitszerfall und vom Hineinrollen in den Tod
wird das Bild vom scheiternden Overbeck dunkel zu Ende gemalt.

In der theologischen Auseinandersetzung mit Overbeck (161-233)
lautet die Grundthese so: der Christ müsse immer wieder „die
Synthese ... versuchen zwischen der Geschichtstheologie biblischer
Texte", die eine „Heihgeschichte" darböten, „und unserer Skepsis
gegenüber geschichtstheologischen Entwürfen" (wofür Burckhardt,
Odo Marquard und Popper als Beispiele angeführt werden). „Mit dieser
Aufgabe muß der Glaube immer wieder scheitern. Gerade im
Scheitern aber erweist er sich als christlicher Glaube. Christliche
Geschichtstheologie heißt: Scheitern mit der Geschichte" (204).

Ist so Overbecks Scheitern an der Geschichte als genuin christliches
Phänomen, ja als glaubensspezifischer Vorgang gedeutet, so werden
außerdem der Skepsis, als deren Vertreter Overbeck dargestellt wird,
„Momente" attestiert, „die dem christlichen Glauben korrelieren"
(219), ja schließlich heißt es, „daß gläubige Existenz immer gescheiterte
und scheiternde Existenz bedeutet" (232).

Für das Verständnis Overbecks bietet die Arbeit manches Förderliche
. Die scharfe Hervorhebung von Overbecks Abstand zum kirchlichen
Christentum und die schrittweise Aufdeckung seiner
Mesalliance mit der Theologie ist ebenso beachtlich wie die Textauswahl
, die das Overbeck-Bild der vorangestellten Untersuchung ergänzt
und bisweilen korrigiert.

Allerdings hat der Vf. die Kategorie des „Scheiterns" zweifellos
über-systematisiert und über-strapaziert. Es ist eine unerlaubte Vereinfachung
, wenn man den Aporien des modernen Historikers in der
Bibel eine geschlossene „Heilsgeschichte" gegenüberstehen sieht (als
ob diese nicht selber eine durchaus moderne Konstruktion wäre!) und
wenn man die Gebrochenheit alles menschlichen Tuns coram Deo
pauschal als „Scheitern" etikettiert. Bei der Vorführung des in der
Skepsis sich selbst verzehrenden Overbeck verfällt Eberlein nachgerade
dem Klischee traditioneller Ketzerpolemik, während Overbecks
verhaltene Zuneigung zu einer Lebensweisheit, die sich gerade
in der Wahrung der Grenzen des Menschseins als Frömmigkeit verstehen
mochte, leider unerschlossen bleibt.

Idar-Oberstein Arnold Pfeiffer

Viller, Marcel, u. K. Rahner: Aszese und Mystik in der Väterzeit. Ein

Abriß der frühchristlichen Spiritualität. Unveränd. Neuausgabe
mit einem Vorwort von K. H. Neufeld. Freiburg-Basel-Wien:
Herder 1989. 26 S„ 323 S. 8*. Lw. DM 68,-.

Dieses Buch erschien im Frühjahr 1939 zum ersten Mal. Karl Rahner
hatte es in den ersten Innsbrucker Jahren nach seiner Habilitation
„bearbeitet". Villers Buch «La spiritualite des Premiers siecles
chretiens» war 1930 in Paris erschienen. Das Vorwort der Neuausgabe
nennt die religions- und kirchengeschichtlichen Studien von
R. Otto, Fr. Heiler, N. Söderblom, A. Schweitzer, K. Holl, W. Völker
- ihnen gegenüber habe es auf röm.-kath. Seite keine Gesamtdarstellung
gegeben. M. Viller (1880-1952) brachte sein kleines, für weitere
Kreise bestimmtes Bändchen heraus und begründete das «Diction-
naire de Spiritualite, Ascetique et Mystique» (Paris ab 1932). Neufeld
berichtet, Villers Buch sei im Format halb so groß wie die deutsche
Ausgabe gewesen, es habe 189 S. Umfang statt fast 350 S. gehabt.
Allein die Literaturhinweise sind im Kleindruck etwa 60 Seiten lang
in der „Bearbeitung". H. U. v. Balthasar nannte in seiner Rezension
das Buch „fast ein Originalwerk des Bearbeiters".

In 12 Kapiteln behandelt das Buch christlich-frommes Leben der
ersten sieben Jahrhunderte. Es beginnt mit der Welt des Neuen Testaments
und der Apostolischen Väter - das mag heute nicht auffallen,
vor 60, 70 Jahren war es nicht selbstverständlich, geistliches Leben in
diesen urchristlichen Schriften verwurzelt darzustellen; auch in neuscholastischer
Philosophie ging man s. Z. nicht immer zu Thomas
selbst zurück. So markiert dieses frühe Werk Rahners schon etwas
vom Impuls seines Lebenswerkes. Das Martyrium als vorbildliche
Nachfolge, aber auch den Gedanken an Jungfräulichkeit findet der Vf.
im Anfang der Kirche, er weiß indes auch, wie Klemens von
Alexandrien die Jungfräulichkeit zurückhaltend lobt, weil er
Gnostikern gegenüber die Ehe verteidigen will.

Klemens und Origenes ist ein eigenes Kapitel gewidmet als Vertretern
gelehrter Frömmigkeit.

Das Mönchtum im Osten, die großen Kappadozier, das Mönchtum
in Palästina und auf dem Sinai und dann das abendländische Mönchtum
wird zusammenfassend und mit vielen einzelnen Gestalten dargestellt
. Benedikt beschließt diesen großen Abschnitt des Buches. In der
Mitte des Kapitels über die griechischen Mystiker steht das areopa-
gitische Schrifttum. Augustinus, Gregor der Große, Johannes
Chrysostomus werden in den folgenden Kapiteln vorgestellt, letzterer
als Prediger der Laienvollkommenheit.

Das letzte Kapitel geht thematisch vor, es nennt Abhandlungen
über das Gebet, es spricht vom Namen Jesu, von der Andacht zum
Kreuz, zu Maria und den Heiligen. Der letzte Paragraph erwähnt
Fastenzeitexerzitien.

In seinen Schlußbemerkungen skizziert Rahner Linien von den
Vätern ins westliche und östliche Mittelalter. „Keine Epoche macht
für sich allein die ganze Kraft der evangelischen Vollkommenheit
lebendig: zu wissen, wie man vor 1500 Jahren die Herrenworte auslegte
, die noch heute unser Herz treffen, wie man in immer neuen
Weisen auf den immer gleichen Ruf Christi antwortete, der auch an
uns gerichtet ist, - das kann unsere Herzen weiten und stärken."
(316)

Das Buch liest sich gut, es hat den Leser von 1939 auch zuverlässig
informiert. Heute wirken die zahlreichen Literaturangaben des damaligen
Standes unbefriedigend. Ohne diesen Apparat hätte es vielleicht
wieder etwas von dem gewonnen, was Villers Buch einmal gehabt
haben mag. Es ist auch nicht zu übersehen, daß der fehlende Bezug auf
die religiöse Lage der Gegenwart sehr auffällt, denn für diese hätte
eine Aktualisierung bedeutend werden können. Vielleicht ist der
Kreis derer groß, die im Blick auf Rahners Gesamtwerk an diesem
Frühwerk besonders interessiert sind. Oder kennzeichnet diese
Neuausgabe die Situation heutiger Patristik? Dann könnte und sollte
die Lektüre zu neuen Studien reizen, in denen die Praxis asketischer
Wüstenmönche etwa mit der des Zen in unterscheidende Beziehung
gebracht werden sollte.

Rostock Peter Heidrich