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Ausgabe:

1991

Spalte:

125-126

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

La réforme et le livre 1991

Rezensent:

Rogge, Joachim

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125

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 2

126

Argumentation nicht immer im Detail überzeugend und wird von
starkem theologischen Interesse etwas überlagert. S. 343 sustitebat
morialia corpora muß heißen: suscilabit.

Obwohl der Band kein geschlossenes Bild der Theologie Müntzers
liefert, was bei den vielen, oft recht verschiedenen Standpunkten und
auch Methodologien der Autoren kaum zu erwarten war, bietet er in
unverhofft umfassender Weise eine Übersicht der neuesten Forschung
und zahlreiche neue Ansätze. Die alten politischen und auch konfessionellen
Fronten in der Beurteilung Müntzers sind offensichtlich
weitgehend überwunden. Der theologischen Leistung Müntzers im
allgemeinen Rahmen der Reformation kann man jetzt viel leichter
nachgehen.

Dunedin Peter Matheson

Gilmont. Jean-Frangois: La reforme et le livre. L'Europe de l'imprime
(1517-v. 1570). Dossier congu et rassemble. Paris: Cerf 1990.
533 S. m. Abb. 8' = Cerf-Histoire. Kart. Ffr 120.-.

Das Thema des Bandes, an dem in Aufsatzform 16 Autoren als Spezialisten
ihres Faches mitgewirkt haben, ist die Reformation und das
Buch. Die Rückseite des Umschlages enthält den einfachen Satz: «La
Reforme est fille de Gutenberg». Die Entwicklung des Buchdruckes
hat der Verbreitung des Gedankengutes der Reformation in entscheidender
Weise gedient, auch wenn man die Bezeichnung eines Verwandtschaftsverhältnisses
als etwas derangiert empfinden könnte.
Immerhin. Zusammenhänge im genannten Sinne sind für viele Orte
und Wirkungsbereiche noch nicht aufgearbeitet, die Mannigfaltigkeit
der Produktionsweisen, der Streuung und des Einflusses der Druckschriften
nicht ausreichend untersucht.

Gilmont unterzieht sich der markierten Aufgabe. Er ist Konservator
an der katholischen Universität Louvain (Löwen) und wirkt gegenwärtig
am Reformationsgeschichtlichen Institut in Genf, um die
Bibliographie des Reformators Johannes Calvin zu bearbeiten. Seit
Jahren beschäftigt ihn die Buchgeschichte vornehmlich des 16. Jh.
Zur Bibliographie und „bibliologie" des Reformationsjahrhunderts
sind schon eine Reihe von Arbeiten von ihm erschienen. (5060

Die 16 Verfasser kommen aus vielen Ländern Europas, auch aus
Osteuropa, so daß das Spektrum des Werkes weit gefächert ist. Dargestellt
sind die Schicksale des Buchdruckes in der Reformationsepoche
, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Land zu Land, so daß hier
e'n europäisches Buch über ein europäisches Thema entstanden ist.
Vielleicht hat das unweit von Löwen gelegene Brüssel als sichtbarer
Ausdruck des Europa-Gedankens in etwa für die historische Aufarbeitung
alter kontinentbezogener Sachverhalte eine Rolle gespielt.
Der Aufweis länderüberschreitender Fragestellungen des Reformationsjahrhunderts
in der relativen Kultureinheit Europas vor mehr als
v,er Jh. mag durchaus dem Brückenschlag zwischen den Völkern
dienen.

Das Werk schaut gewissermaßen in die Werkstätten des Zustandekommens
der Reformation in technischer Beziehung, die selbstverständlich
ihre geistigen Voraussetzungen und Hintergründe hat.

Welche Editoren der Reformation, welche Fabrikanten gab es,
welche äußere Beschaffenheit hatten die der Reformation gewidmeten
Bücher? Wer propagierte die neuen Gedanken, wer nahm sie im Buch
auf? Und auch das gehört zu der von Gilmont favorisierten Fragestellung
: «Quel fut le röle de la censure ecclesiastique ou civile?»
(Umschlagtext)

Das vorliegende Werk geht, wie man schon der Einleitung entnehmen
kann, methodisch streng vor, das heißt hier analytisch exakt (13).
Fabrikationsuntersuchungen. Inhaltsanalysen, Rezeptionspraktiken,
das alles wird in bezug etwa auf .lutherische Bücher', ihre Druckorte,
ihr Format, ihre Illustrationen dargelegt. Im 16. Jh. wie heute erscheinen
im Ergebnis der Untersuchung die linguistischen Fronten nicht
■rnmer zusammenfallend mit den politischen Grenzen der Staaten.
Gilmont stellt in der Einleitung fest, daß eine Wechselseitigkeit der

Beeinflussung vorliegt. Der Buchdruck hat der Reformation vorangeholfen
, aber die Reformation hat auch den Buchdruck gefördert.

Die Einzelbeiträge des Bandes mit den für alle Autoren geltenden
Fragerichtungen sind in kollektiven Diskussionen vor der Endfassung
durchberaten worden, so daß man ein echtes Gemeinschaftswerk vor
sich hat. Es ist nicht nur in der Verzweigtheit der Fragemethoden,
sondern auch in der großen Breite der Feldforschung in allen Teilen
Europas (17) interessant.

Jeder der 18 in sich geschlossenen Beiträge hat am Ende eine englischsprachige
Zusammenfassung, die vielen Lesern sicher nicht nur
eine sprachliche, sondern auch sachlich konzentrierende Hilfe ist.
Alle Autoren werden in einer Kurzbiographie mit ihren Veröffentlichungen
vorgestellt (505-510). Ein ungewöhnlich langer Namensindex
(513-531) gewährt einen lehrreichen Blick in die literarische
Leistung reformatorischer und zeitgenössischer Autoren unter dem
Gesichtswinkel der oben genannten Problemfelder.

Gilmont selbst, der die Anlage des Buches bestimmt hat. führt ausführlich
in sein Werk ein (9-18). Wer nur einzelne Beiträge zu lesen
sich vornimmt, sollte die "introduetion" als Schlüssel für das Ganze
auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen. Dasselbe ist auch zu Gilmonts
"conclusion" (479-504) zu sagen. Darin wird u. a. festgestellt:

1. Auseinandersetzungen über die Bibelübersetzung offenbaren die Spannungen
in den christlichen Konfessionen.

2. Das Kommunikationsgeschehen zwischen Wort Gottes. Predigt und Bibcl-
lescn signalisiert den Konflikt in der Bibclintcrprctation. Der Vorgang zwischen
Bibellesen und Predigt ist hauptsächlich ausgebildet bei den Protestanten, allerdings
ist die katholische Haltung in dieser Frage nicht so gegenläufig wie
bisweilen behauptet.

3. Der Vorgang des Lesens, auch des öffentlichen Lesens, hängt zusammen
mit der Wirkung polemischer Pamphlete. Katechismen und liturgische Formulare
spielen hiereine ähnliche Rolle.

4. Wissenschaftliche Werke werden stumm gelesen. Die Bibel kann auf verschiedene
Weise gelesen werden. Hier zeigen die Protestanten eine deutliche
Präferenz für den Gebrauch der Landessprache.

5. Der Buchdruck im 16. Jh. kam mehr voran in protestantischen Ländern.
Man muß hier die Jahrhunderte überblicken. Das Lesen wurde erst im 19. Jh.
im Volk wirklich verbreitet. Gilmont sieht diese Entwicklung in der Wertschätzung
des Buches und des Lesens bis zum heutigen Tage vornehmlich in protestantischen
Ländern.

6. In unserer Zeit ist das Buch als Kommunikationsmittel auch anderen
Techniken für Kommunikation dienlich. Gilmont nennt das Bild, den Gesang
und das Theater (504).

Die genannten Schlußfolgerungen sieht der Hg. in den Einzelbeiträgen
gut untermauert. Er selbst untersucht die Buchdruckerkunst generell
zu Beginn des 16. Jh.s( 19-28), J. L. Flood (London) das Buchwesen
in der Reformationszeit im deutschen Sprachbereich. (29-104) Seine
These: "Germany was the cradle of both printing and the Reformation
." (104) F. M. Higman (Genf) widmet sich für die Jahre 1520-1562
dem französischsprachigen Raum. (105-154) Etwa für die gleiche Zeitspanne
schließen sich an: A. G. Johnston (Southampton) für die Niederlande
, der Hg. für die drei Grenzstädte Antwerpen, Strasbourg und
Basel, Johnston & Gilmont, M. U. Chrisman (Northampton/Mass.)
und P. G. Bietenholz (Saskatoon) je gesondert nochmals für Antwerpen,
Strasbourg und Basel, D. M. Loades (Bangor) für England, A. G. Kinder
(Manchester) für Spanien, U. Rozzo (Tortona) und S. Seidel Menchi
(Tübingen) für Italien, G. Borsa (Budapest) für Ungarn, M. Bohatcova
(Prag) für Böhmen und Mähren, A. Kawecka-Gryczowa & I. Tazbir
(Warschau) für Polen, A. Riising (Odense) für Dänemark und Norwegen
und schließlich R. Kick (Strasbourg und Lund) für Schweden.

Gilmont legt ein ungewöhnliches, viele Einsichten vermittelndes
Buch vor, das von der Außenseite des Geschehens auf die Innenseite
der Reformation des 16. Jh.s blicken lehrt. Der Hg. ist ebenso kräftig
den historischen Stoffen und ihrer Vermittlung wie einer bestimmten
Betrachtungsmethode verbunden. Alle, die an der reformationsgeschichtlichen
Forschung sind, werden daraus viel Anregendes für
die eigene Weiterarbeit entnehmen.

Görlitz-Berlin Joachim Rogge