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Ausgabe:

1991

Spalte:

106-108

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bock, Sebastian

Titel/Untertitel:

Kleine Geschichte des Volkes Israel 1991

Rezensent:

Conrad, Diethelm

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 2

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Einheit ist mit Ausnahme von V. 14f in der 2.P.f.sing. stilisiert, wendet
sich an die Jerusalemer und verfolgt die Absicht, ihnen zu demonstrieren
, daß sie selbst die alleinige Verantwortung für die Katastrophe
tragen, die über sie hereingebrochen ist. Der Vf. nennt die Schicht
daher (wenig glücklich) .Schuldübernahme' Redaction. Texte mit derselben
Stilisierung und Intention finden sich noch in 4,7b. 18.30; 6,8;
1:5-0-27; 30,12-15, evtl. auch in 11,15-17; 7,29. Sie führen den Vf.
zu der Annahme, daß diese Redaktionsschicht als Einleitung vor eine
ursprüngliche Form der (älteren) Sammlung in Kap. 4-6 gestellt
wurde und darin selbst ihre Einträge (ebenso wie in 30,12-15) hinterließ
. Sie ist älter als die (dtr.) Prosareden des Jer-Buches, setzt aber die
Katastrophe von 587 v. Chr. voraus und bietet eine erste theologische
Interpretation des Unheils für die Betroffenen, die nach dem Grund
ihres Geschicks fragten; Das Desaster war selbstverschuldet, und zwar
durch den Abfall von Jahwe, der vor allen Dingen in illegitimen, politischen
Bündnissen, weniger im Götzendienst, bestand.

Oer nächste Schritt in der Ausgestaltung des großen Komplexes
Bestand im Anwachsen von Kap. 3. Der Vf. erklärt diesen Prozeß als
eine sukzessive Fortschreibung des einleitenden Textes 3,1-5, der -
offenbar in Redaktion auf die Aussagen der „Schuldübernahme-
Redaktion" - die Frage aufwarf: „Kann Israel zu Jahwe zurückkehren
?' Sie gab das Thema für die in Kap. 3 enthaltene Repenlance
Series vor. Als Reihenfolge für die hinzukommenden Kommentierungen
wird vorgeschlagen: V. 19-20 (21), dann der Umkehrruf
V- 12b. 13, darauf V. 22-25, danach die Versetzung von V. 19-20
(21) hinter V. 12b. 13. Schließlich folgten V. 6-12a und V. 14-18 (die
a's Einheit beurteilt werden). 3,6-12a wird zutreffend der Schicht der
Prosareden, 3,14-18 der nachexilischen Heilseschatologie (die sich
auch in der Redaktion von Kap. 30-31 zeigt) zugerechnet, so daß sich
chronologische Fixpunkte ergeben. Das Zuwachsen dieser „Fortschreibungskette
" an die „Schuldübernahme-Redaktion" verlieh dem
Komplex das theologische Gefälle von Sünde, Umkehr und Vergebung
.

Dem ..Schuldübernahme"-Stratum von Kap. 2 wurde als nächster
Schritt die Generalions Redaction aufgeprägt, die V. 4-13.26-32 in
den Text einbrachte. Stilistisch nicht ganz einheitlich, aber nicht in
der 2.P.f.sing. formuliert, trägt sie in charakteristisch retrospektiver
Sicht den neuen Gedanken der epochenüberspannenden Schuld der
Väter und damit der Sündhaftigkeit aller Generationen in den Zusam-
menhang ein und müht sich, die Unvernünftigkeit des Abfalls von
Jahwe im Horizont der heilsgeschichtlichen Erfahrungen mit ihm aufzuzeigen
. Die Schuld gegenüber Gott besteht im Verstoß gegen das
' Gebot, im Abfall zu den Götzen, die nicht helfen können. Diese
Schicht benutzt Material aus verschiedenen Strata der Jer-Tradition
und setzt die Hauptmasse der dtr. Literatur und das Gewicht der dtr.
Bundestheologie voraus. Damit rückt sie in die post-dtr., nach-
exilische Zeit.

Den Abschluß des Komplexes markierte die Framework Redac-
>'on, die 2,2b.3 und 4.1 f rahmenartig um die vorliegende Einheit her-
umlegte. 2.2b.3 sind also nicht mit offenem Schluß direkt auf 2,4ff zu
beziehen, sondern finden in 4,1 f ihre Aufnahme. Mit ihrem Bezug auf
die Frühgeschichte (2,2b.3: Wüstenzeit, 4,lf: Erzväterverheißung)
bilden die beiden Texte eine Inclusio. Zudem bieten sie die einzigar-
''ge Auffassung, daß das Schicksal Israels und der Nationen unauflösbar
miteinander verbunden sind. Sie beantworten die Frage: „Auf
Welcher Basis kann Israel vergeben werden?" unter Hinweis auf die
Treue der Wüstengeneration und auf die Aufgabe Israels an den Völkern
.

Der Komplex 2.1-4.2 ist also, abgesehen von wenigen vorgegebenen
poetischen Materialien, einem literarischen Gestaltungsprozeß
entsprungen. Der Vf. kennzeichnet ihn als immer neue "transforma-
tion" vorgegebener Schichten in einem stufenweisen Ablauf, der
einen kreativen hermeneutischen Prozeß von "up-dating and valida-
tlrig existing materials" (204) darstellt.

Das Verständnis des Komplexes als Komposition von Sprüchen
über das ehemalige Nordreich aus Jeremias Frühzeit ist in der Sicht

des Vf. hinfällig geworden. Spruchmaterial kann in der Grundschicht
entdeckt werden, doch über die bloße Möglichkeit jeremianischer
Herkunft geht der Vf. nicht hinaus. Der Textzusammenhang erweist
sich vielmehr als Ergebnis einer langzeitigen literarischen Tätigkeit
mit mehreren Redaktionsstadien, die mit dem Untergang Judas und
Jerusalems ihren Ausgangspunkt nahm und sich bis tief in die nach-
exilische Zeit, kurz vor den Abschluß des ganzen Jer-Buches, fortsetzte
.

Dieses Ergebnis, das überwiegend durch die Beobachtung großer thematischer
bzw. „ideologischer" Zusammenhänge, weniger durch subtile Einzcl-
untersuchungen gewonnen wird, ruft eine Reihe kritischer Einwände hervor,
von denen einige genannt seien: .

1. In der „Schuldübcrnahme-Rcdaktion" wird zweimal „Assur" genannt
(2,18.36). Was hat dieser Hinweis auf eine zwischen Ägypten und Assur
schwankende Bündnispolitik in der Situation nach 587, in der ..Babel" zu
erwarten wäre, für einen Sinn? Die Zeit, in der Juda wirklich zwischen Ägypten
und Assyrien hin- und herwechselte, lag lange zurück.

2. Die Auffassung, die Anrede in der 2.P.f.sing. innerhalb der „Schuldüber-
nahme-Rcdaktion" habe sich von Anfang an auf Jerusalem hezogen. widerspricht
der ältesten Interpretation, nämlich in 3.12a/ft>. 13 und noch deutlicher
in 3,6-12aa, wo die angesprochene Größe als „Israel" bzw. „Nord-Israel" aufgefaßt
wird. Daß dies ein Neuverständnis ist. müßte begründet und nicht nur
behauptet werden.

3. Daß der Abfall von Jahwe in der „Schuldübernahme-Redaktion" primär
auf die Bündnispolitik Jerusalems und Judas zielt, ist schwerlich haltbar.
Gerade die den poetischen Überlieferungen interpretierend zugefügten redaktionellen
Ergänzungen beziehen sich in V. 20b und 23aa eindeutig auf den
Baalsdienst der Angesprochenen. Da man in derartigen Zufügungen am ehesten
die Intention der Redaktion greifen kann, hat der Vorwurf des Fremdgötterdienstes
entschieden größeres Gewicht, und damit fällt auch ein Hauptunterschied
zur „Generationen-Redaktion" dahin.

4. Nicht zufriedenstellend ausdiskutiert ist das Verhältnis der Überschriften
2,1.2aa („Jerusalem") und 2,4 („Jakob/Israel"). Der Vf. vermutet, ohne es
weiter zu entfalten, daß 2,1.2a* einmal die Überschrift über den Kern des
2.P.f.sing.-Materials in Kap. 2+4-6* gebildet habe. Das entspricht seiner
Annahme einer redaktionsgeschichtlichen Wandlung von einer ursprünglichen
„Jerusalem"- zu einer „Israel"-Anrede. Aber es ist wenig wahrscheinlich. Eher
wird die ältere Überschrift in 2,4 durch 2,1.2a* uminterpretiert, wobei der beabsichtigte
Bezug der Formulierung in V. 2aa auf Kap. 36 (vgl. V. 6.10.13.14.21)
zu beachten ist.

5. Grundsätzlich ist zu fragen, ob das, was der Vf. herausarbeitet, tatsächlich
Redaktionsschichten darstellen. Möglicherweise handelt es sich eher um Typen
von Spruchmaterial, die in Kap. 2 (und 3) in besonderer Weise kompositionell
verbunden sind, sich aber charakteristischerweise auch in anderen Teilen des
Buches vorfinden. Dann wäre es jedoch notwendig, stärker sowohl überliefe -
rungsgeschichtlich als auch kompositionskritisch zu fragen und die poetische
Form der Texte (Handelt es'sich wirklich um so etwas wie „redaktionelle
Schreibtisch-Poesie"?) mehr zu berücksichtigen. Eine redaktionsgeschichtliche
Untersuchung müßte wohl auch eine striktere Differenzierung zwischen Tradition
und Redaktion erbringen, als das in dieser Untersuchung geschieht.

Marburg (Lahn) Winfried Thiel

1 S. Herrmann, Jeremia - der Prophet und die Verfasser des Buches Jeremia.
in: P.-M. Bogaert (Hg.), Le livre de Jeremie (BEThL 54). Leuven 1981,
197-214. Zur Grundschicht rechnet er: 2,20aa.21 f.23a/ib.24.25a.26.27ay3b,
zur Erweiterung: 2,20a/?b.23aa.25b.27aa.28 (bes. 203).

Bock, Sebastian: Kleine Geschichte des Volkes Israel. Von den Anfängen
bis in die Zeit des Neuen Testaments. Mit einer Einleitung
von N. Lohfink. Freibürg-Basel-Wien: Herder 1989. 192 S. kl. 8° =
Herder Taschenbuch, 1642. Kart. DM 12,90.

Art und Struktur, Legitimierung und Veränderung der jeweiligen
Gesellschaftsform des alten Israel sind durchgängige Gestaltungs- und
Einleitungsprinzipien der vorliegenden Kleinen Geschichte Israels.
Dieses Programm, als eine Art Geschichte Israels von unten, entwirft
schon das Eingangskapitel „Die Gesellschaft Gottes sucht ihre Gestalt
". Aufeinanderfolgende Experimente auf dieser Suche, die allerdings
alle scheiterten, sind die akephale Stämmegesellschaft (32-66).