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Ausgabe:

1991

Spalte:

73-75

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Feigel, Uwe

Titel/Untertitel:

Das evangelische Deutschland und Armenien 1991

Rezensent:

Köckert, Friederike

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Litcralurzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 1

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die Gesellschaftsanalyse vom Marxismus "inlbrmed but not dicta- Orientmission" unter Johannes Lepsius und der mit ihnen verbündend
" ist (183). Die Kapitalismuskritik ist vor allem theologisch nen Hilfsarbeit der schweizerischen Armenierfreunde. Anhand der
begründet (48 IT und 104ff). Und die Option für die Armen, insbeson- von den Hilfswerken herausgegebenen Vereinszeitschriften, die in dienere
in der Gestalt der in Afrika weit verbreiteten Rede von der sem Umfang hier erstmals ausgewertet werden, wird das Selbstver-
'anthropological poverty" (15 u. ö.), bedarf keiner marxistischen ständnis dieser deutschen evangelischen Hilfsarbeit geschildert.
Beeinflussung. Es wird der Theologie in der Welt der Reichen nichts Neben viel Informationen über Finanzmittel, Mitarbeiterproblcme
anderes übrigbleiben, als das neue Paradigma aufzunehmen, und etc. erfahren Leser hie und da auch etwas über die theologische Moti-
ZWar in allen seinen Dimensionen: die Armen als die Gesprächspart- vation der Hilfsarbeit, die ihnen aus heutiger Perspektive vielleicht
nerlinterlocutors) der Theologie, die Rede von Gott gegen Selbstsucht fragwürdig erscheinen mag. Sah man doch über die Linderung
und Götzendienst, die Analyse von Konflikten und ihre ganzheitliche menschlichen Leidens hinaus in der geistlichen Erweckung das hochzieht
als methodischer Ansatz der Theologie, das neue Verhältnis ste Ziel des christlichen Liebeswerkes (1 12) und zeigte sich enttäuscht,
zwischen sozialen Wissenschaften und Theologie sowie die Dialektik wenn jene nicht gelang. Oder aber man sah in den Armeniern einen
•'wischen Praxis und Theologie (6-1 I). (unterstützenswerten) Vorposten christlicher Kultur im islamischen
Berlin Johannes Althausen Orient und somit einen Ausgangspunkt zur Islammission. Diese Problematik
, die ohnehin nur aufmerksamen Leserinnen ins Auge fallen
wird, soll keinesfalls die positive Würdigung dieser sich oft unter
Öklimenik' Ostkirche schwierigsten Bedingungen vollziehenden Hilfsarbeit schmälern.

M. E. wäre allerdings eine tiefgründigere und differenzierte Darstellung
und Beurteilung dieser theologischen Motivationen, in denen

e'gel. Uwe: Das evangelische Deutschland und Armenien. Die ganz verschiedene theologiegeschichtliche Ansätze spürbar werden.

Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des sehr wünschenswert gewesen. Denn wo sonst, wenn nicht in einer

19 Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen. [heol ischen Dissertation zu diesem Thema, könnte eine kritische

Böttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989. 344 S. m. 1 Kte 8 = ..... , , , , c.. ... ^.

Kirche und Konfession. 28. Kart. DM 82.-. Würdigung der theologie- und Irommigkeitsgeschichthchen Dimension
einer solchen christlichen Hilfsarbeit geleistet werden. Dazu fehlt

Das vorliegende Buch ist die im Wintersemester 1987/88 von der aber der hier vorliegenden Arbeit .bedauerlicherweise die nötige

Theologischen Fakultät der Universität Kiel angenommene Disserta- ,,Tiefenschärfe".

Bon des Vf. Sic widmet sich der dringend notwendigen Aufarbeitung Auch die Analyse der zeitgenössischen christlichen Presse vermit-
eines bisher in der Öffentlichkeil mit zu wenig Aufmerksamkeit teil ein unscharfes, unvollständiges Bild, geschieht doch die Auswer-
bedachten. weil nach wie vor heiklen Themas: dem Schicksal des tung der zugrunde gelegten Zeitschriften und Jahrgänge nur auszugsarmenischen
Volkes im Osmanischen Reich, seiner Vertreibung und weise, ja fast sporadisch. Eine umfassende Analyse dieses Materials in
Vernichtung sowie der Reaktion zeitgenössischer deutscher evange- weiteren, folgenden Forschungsarbeiten wäre auch hier sehr wün-
'ischer Christen darauf. sehenswert, würde diese doch nicht nur das Zur-Sprache-Bringen
Da die historischen Begebenheiten, die schon 1894-1896 und der an den Armeniern geschehenen Ungeheuerlichkeiten zutage brin-
crneut und in weitaus schlimmerem Maße 1915/16 zu systematischer gen, sondern sicher ebenso deutlich das Schweigen und die völlige
Verfolgung und Massakrierung der armenischen Bevölkerung im Sprachlosigkeit angesichts der Ereignisse.

Osmanischen Reich führten, einer deutschen Leserschaft nicht allge- Bedauerlicherweise stützt sich die gesamte Arbeit nur auf bereits

mein bekannt sind, ist der Autor gezwungen, die Ereignisse selbst veröffentlichtes Material; der umfangreiche Schatz unveröffentlichter

ausführlich darzustellen. So nimmt diese Schilderung einen nicht Dokumente sei dem Autor entweder nicht zugänglich oder seiner

unerheblichen Raum ein neben der eigentlichen Zielstellung dieser Meinung nach Für die Darstellung unerheblich gewesen (12). Zu die-

Arbeit. die der Autor folgendermaßen beschreibt: „Folgende These ist sem Urteil gelangt er, ohne offensichtlich auch nur den Versuch

Zu verifizieren: Die deutsch-armenischen Beziehungen im Rahmen gemacht zu haben, das umfangreiche unaufgearbeitete Archivmate-

der deutsch-türkischen Beziehungen waren primär Initiativen enga- rial aufzuspüren und zu sichten. So ist es denn nur richtig, wenn er

Werter Christen Deutschlands, die über Jahrzehnte beharrlich, sei es feststellt, daß die Korrektheit des ihm zur Verfügung stehenden Mate-

m,t Zustimmung oder trotz Ablehnung oder angesichts der Glcichgül- rials für ihn letztlich nicht überprüfbar ist. Verwunderlich ist nur. daß

l'Rkeit der eigenen Regierung und der breiten deutschen Öffentlich- ihm diese notwendige Voraussetzung einer sachgerechten Darstellung

e't. notleidenden armenischen Mitchristen Hilfe brachten" (II). und Urteilsbildung so gleichgültig ist. Auch der Umgang mit dem ver-

Für die Bearbeitung seines Themas hat sich der Autor einen arbeiteten Quellenmaterial erscheint nicht immer gelungen: Die

jstaunlich großen Zeitraum vorgenommen: Beginnend bei den Vcr- Zitate aus herangezogenen Quellen (etwa aus Zeitschriften) sind bis-

a|tnissen der Armenier im Osmanischen Reich im 19. Jh. versucht er weilen so bruchstückhaft und kurz, daß sie zwar den Eindruck des

"~ nach detai llicrtci Bearbeitung des Zeitraumes vom Beginn derersten Autors, nicht aber die ursprüngliche Situation klar genug erhellen,

assaker 1894 bis zum Ende des Völkermordes 1916/17 -, den so daß sich Leserinnen kaum noch ein eigenständiges Bild machen

°gen bis in die Gegenwart zu schlagen. Dabei schildert er jeweils können (z. B. 41). Ich hätte mir eher gewünscht, daß bestimmte Quel-

zuerst die historischen Ereignisse und die politische Konstellation der len (wie z. B. Auszüge aus den Publikationen der Vereinszeitschriften)

offiziellen deutsch-türkischen Beziehungen und dann die jeweiligen ausführlicher selbst zu Wort kommen.

Aktionen und Haltungen der deutschen Öffentlichkeit (so z. B. in Da der Autor auch in ähnlich unkritischer Weise seine Auswahl

er Beurteilung durch einflußreiche Politiker, in der „säkularen" von Sekundärliteratur beschränkt hat - er klammert fremdsprachige

resse und in der zeitgenössischen Publizistik), um schließlich speziell ausdrücklich aus, hätte jedoch wenigstens (!). des Englischen kundig.
auf Stellungnahmen der christlichen Presse (vor allem auf Äußcrun- sorgfältiger nach exilarmenischer, englischsprachiger Literatur Austen
der führenden evangelischen Kirchenzeitungen wie auch einiger schau halten können -, verwundert es dann nicht, wenn seine Darstel-
lss'onszeitschriften) einzugehen. lung mitunter unreflektiert wirkt. So zeichnet er beispielsweise ein
Erst in diesem breit angelegten zeitgeschichtlichen Rahmen findet Bild von der armenischen Kirche, das ausschließlich mit den Augen

as eigentliche Thema seine Bearbeitung: die Darstellung der Hilfelei- zeitgenössischer deutscher evangelischer Christen gesehen ist. ohne es

stung deutscher evangelischer Christen Für die Armenier. Im Mittel- selbst kritisch zu binterfragen. Durchgehend wird die traditionelle

Punkt dieser Darstellung steht die Arbeit der deutschen Hilfswerke: armenische Kirche als „gregorianische Kirche" bezeichnet, eine zwar

es -Deutschen Hilfsbundes Für christliches Liebeswerk im Orient" in der Konfessionskunde geläutige, aber doch /Ve/j^/bczeichnung

Unler Ernst Lohmann und der daraus erwachsenen „Deutschen dieser Kirche, die von ihrer Selbstbezeichnung als Armenische