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Ausgabe:

1991

Spalte:

926-927

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Güstrau, Stephan

Titel/Untertitel:

Literatur als Theologieersatz: Heinrich Böll 1991

Rezensent:

Kuschel, Karl-Josef

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 12

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VMfUre dies nicht: Der Band widerspiegelt, gerade in seiner Christliche Kunst

arbigkeit, die jetzige Erasmusforschung viel besser, als es

^lt^TVVrP^Chln PTT8,mÖf Ch8hreSe" Gustrau, Stephan: Literatur als Theologieersatz: Heinrich Boll.

•enBann Ee'Chm'tdem 1936 in den Niederlanden publizier- ^ sag( ^ Ruba js( mer und auch* hr Nicaragua.. Frank.

derlänn k lehrreich. Jener enthielt neun Beiträge von fünf nie- furt/M.-Bern-New York-Paris: Lang 1990. XI, 113 S. 8 =

^ ndischen und vier nichtniederländischen Autoren (die 1936 Würzburger Studien zur Fundamentaltheologie. 6. Kart. DM

asel publizierte Gedenkschrift zählte übrigens unter neun- 39
etln Autoren zwölf Basler Gelehrte!), dieser nun umfaßt acht

eiträge von niederländischen Autoren bei einer Gesamtzahl Um es gleich vorweg zu sagen: eine Arbeit, die einen seltsam
°n yierundzwanzig Artikeln, von denen zwanzig englischspra- zwiespältigen Eindruck hinläßt, zwiespältig, was ihren Inhalt
etllg sind. Wichtiger noch als diese anwachsende Internationali- und was ihre Interpretationskategorien betrifft.
Gerung ist die Verlagerung der Interessen. Vor fünfzig Jahren ein Zum Inhalt: Man wird in dieser als Diplomarbeit an der Ka-
e'nzelner Vortrag über Erasmus „als religiöse Persönlichkeit", tholisch-Theologischen Fakultät in Würzburg geschriebenen
■Jftzt eine stattliche Zahl von Studien über sehr unterschiedliche Schrift solide informiert über die Dimensionen des Werkes von
JjPekte von Erasmus' theologischen Schriften. Im allgemeinen Heinrich Boll, die religiös oder theologisch relevant sind. Man er-
al,t auch auf, daß viele Beiträge eine bestimmte Schrift ganz fährt das Nötigste über die biographischen Hintergründe und
^er teilweise behandeln. Schreibmotivationen des Autors, man erfährt Ausreichendes
Se'bstverständlich ist es unmöglich, einen Überblick über die über seine „Ästhetik des Humanen" und sein Verständnis von
einzelnen Beiträge zu geben. Ich bevorzuge es, einige allgemei- Sprache, die auf eine „bewohnbare Sprache in einem bewohnbare
Bemerkungen über die heutige Erasmusforschung zu ma- ren Land" abzielt - gegen alle Bedrohung und Zerstörung von
enen, insofern diese sich aus dieser Schrift ergibt. Das Interesse Sprache. Man erfährt etwas von Bolls Begriff des Humanen, der
3m Theologen und an seinen Schriften erwähnte ich schon. Letz- nicht zu trennen ist von seinem Christusverständnis, sieht Boll
eres hat natürlich auch damit zu tun, daß mehrere Autoren eben- doch in Christus „ den Menschgewordenen ". der die Menschwer-
alls Mitarbeiter an der neuen Erasmusedition sind, von der bis- dung des Menschen zugleich verkörpert und utopisch vorweg-
ncr neunzehn Bände erschienen. Verschiedene Beiträge lehnen nimmt. Man erfährt etwas von der Sinnlichkeit und Körperlichen
eng an die Editionsarbeiten der jeweiligen Autoren an. Ver- keit von Bolls Religionsverständnis, das sich in seinem neuen
hältnismäßig gering ist das Interesse am Lebenslauf des Erasmus. Begriff von Sakramentalität konkretisiert: Sakramente als sinn-
erständlich, denn das für die Biographie so wichtige Briefkor- liehe Zeichenhandlung der Anwesenheit des „Göttlichen". Zei-
Pus liegt seit 1958 vollständig vor. Seitdem sind mehrere gute bis chen, die keineswegs nur an den kirchlich-liturgischen Vollzug
vorzügliche Biographien erschienen - ein Tatbestand, der die gebunden sind, sondern bei Boll für den Alltag des Menschen re-
ynterschiede zur Lage 1936 noch unterstreicht. Was in dieser zipiert werden. Und man erfährt schließlich Lesenswertes über
Hinsicht fehlt, ist die ausführliche, faktenkonzentrierte, zu ver- Bolls Gottesverständnis: sein Bild vom „verkörperten Gott".
assige. meinetwegen langweilige, Biographie. Schwerer noch einem Gott in den Gestalten des Niedrigen und Verachteten, der
W|egt der Mangel an Studien über die geistige Umwelt, in der der gerade so dem Niedrigen seine „ Hoheit", dem Verachteten seine
Junge Erasmus seinen Weg gefunden hat. Der Renaissancehuma- „Würde" zu geben vermag. All das ist zwar nicht originell und
nismus ist uns jetzt viel besser bekannt als je, aber dessenunge- konnte man in der Literatur zu Boll auch schon anderswo finden.
aehtet ist das geistige Klima, in dem Erasmus sich entwickelte, ist aber in der Synthese hilfreich und in der massierten Zusam-
nur noch oberflächlich bekannt. Auch in diesem Band gibt es nur menstellung spannend zu lesen.

e,nen diesbezüglichen Artikel. Ein Forschungsdesiderat ist auch Zu den Interpretationskategorien: Das Problem mit dieser
das Studium der patristischen Arbeiten des Erasmus. Einige gute Schrift beginnt dort, wo der Vf. mit dem literarischen Befund
Arbeiten sind diesem Thema gewidmet. Auf diesem Gebiet kann theologisch umgehen will. Dabei ist es durchaus verdienstvoll.
man noch viel erwarten, denn jedermann weiß, wie wichtig Eras- daß der Vf. vom Böllschen Denken her Solidarität mit der
nius' patristische Studien für die Herausbildung seiner eigenen „Theologie der Befreiung" herstellen will. Bolls Gottesverständ-
' heologie waren. nis läßt in der Tat Brücken zur „Theologie der Befreiung" schlafe
Organisatoren äußern ihren Wunsch, daß der Band als "a gen, da auch sie „ von der Anwesenheit Gottes in der Armut der
beacon to future scholars" die künftige Forschung fördern möge. Welt" (2) ausgeht. Probleme aber werfen die Kategorien auf, mit
Bilden diese Beiträge tatsächlich "a beacon", sind sie inspirie- denen der Vf. das Verhältnis von Theologie und Literatur be-
rend? Ich wage, dies zu bezweifeln. Diese Einschätzung ist nicht stimmt.

abschätzig gemeint: Die Qualität der Aufsätze ist gut. Aber ihnen Das trifft vor allem für den schon im Titel der Schrift verwand-

''egt eher der bisherige Forschungsstand zugrunde, als daß sie ihn ten zentralen Begriff von Literatur als „ Theologieersatz "zu. Der

erw eitern. Ein Vergleich der jetzigen Erasmusforschung mit der Begriff könnte nicht unglücklicher gewählt sein. Er w ird weder

Forschung vor etwa 1960 zeigt, daß in diesen Jahrzehnten das dem Böllschen Literatur- noch dem heutigen Theologieverständ-

Erasmusbild sich grundsätzlich geändert hat. Es ist unmöglich ge- nis gerecht. Er ist weder als Interpretations- noch als Rezeptions-

worden. Erasmus nur aus der Sicht eines Luther oder aus der Per- kategorie brauchbar. Als Interpretationskategorie ist er untaug-

spektive des 18. Jh.s zu skizzieren, wenn auch solche Fehlurteile lieh, da Boll „nie beansprucht" hat - wie der Vf. seltsamerweise

noch auf Schritt und Tritt begegnen. Erasmus hat in der neueren selber schreibt-„Theologie zu ersetzen "-bei all seiner Kritik an

Forschung seinen Platz im Renaissancehumanismus und in der der Theologie" (79). Er ist als theologische Rezeptionskategorie

Reformationsgeschichte bekommen, was gerade nicht besagt, von Literatur untauglich, weil Theologie, will sie Theologie blei-

daß er zum Voltaire seines Jh.s oder zum Reformator geworden ben, sich durch nichts anderes „ersetzen" lassen kann auch nicht

'st. Dieser Konsens wiederspiegelt sich in diesem Buch. Ohne durch Literatur, selbst wenn sie wie im Fall Boll noch so viel

etwas zuungunsten der Schrift zu sagen, kann man konstatieren, „ Humanität verkörpert" (79). Indem der Vf. also davon ausgeht

daß neue Impulse - und damit meine ich Ansätze zu einem neuen daß „ Literatur die Theologie von der Sprache her" ersetze dort

Erasmusverständnis oder zu einer neuen Erasmuswürdigung - wo die Sprache der Theologie ihre Humanität nicht mitteilen"

kaum hervortreten. könne oder weil Literatur „unter konkreten Verhältnissen von

Gott" spreche (109), bringt er das Kunststück fertig, zugleich die

Ams,erdam Corncl,s Aueus,iJ'n Literatur zu über- und die Theologie zu unterfordern. Ähnliches