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1991

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Neues Testament

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 12

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betrachte Paulus nicht als Gegensatz, sondern komplementär.
Seine „Bekehrung" war kein Religionswechsel, sondern hatte lediglich
den Wechsel von einem möglichen jüdischen Gesetzesverständnis
zu einem anderen (eschatologischen) zur Folge. Inhaltliche
Modifikationen der Tora resultierten aus seinem
Auftrag zur Heidenmission. Im Blick auf das nicht glaubende Israel
kritisiere Paulus nicht dessen Tun des Gesetzes, sondern
dies, daß es sich durch Ablehnung des Glaubens an Christus die
durch ihn und den Geist eröffnete Möglichkeit zum Toragehorsam
selbst verbaut. In einem Appendix (123-132) setzt sich
Thielman mit einschlägigen Positionen von L. Gaston und J. G.
Gager auseinander.

Thielmans Ansatz, eschatologische Erwartungen im Frühjudentum
für das Verständnis der paulinischen Aussagen fruchtbar
zu machen, erscheint mir grundsätzlich sachgemäß. Sein Bemühen
, die divergierenden Briefaussagen als variable Aktualisierungen
einer in sich konsistenten Position verständlich zu machen,
ist m. E. hilfreicher als die vor den Schwierigkeiten eines solchen
Versuchs kapitulierende, selbst aber nichts erklärende Auskunft,
Paulus sei nicht in erster Linie Theologe, sondern pragmatischer
Missionar gewesen. Zutreffend ist weiter, daß die paulinische
Gesetzesanschauung eine ganz aus den Quellen jüdischen Glaubens
geschöpfte und nach seinem Selbstverständnis aufgrund seiner
Christuserfahrung auch die für ihn als Israeliten (vgl. Rom
11,1!) einzig mögliche Haltung zur Tora im angebrochenen
Eschaton ist. Paulus war sicher kein Antinomist!

Dies gilt aber m. E. gerade und nur dann, wenn man, wie es
Paulus selbst tut (Gal3,13; Rom3,21-26; 1 Kor 1,18-25), seine
christologische Grundüberzeugung ihrem Inhalt nach, als Kreuzes
- und Auferweckungsbotschaft nämlich und nicht lediglich als
Signal für den Anbruch des Eschaton, als grundlegend für sein
Gesetzesverständnis in Anschlag bringt. Die von Thielman im
Anschluß an seine Skizze der Forschungslage aufgebaute und
immer wieder herausgestellte Alternative zwischen einer eschatologischen
und einer christologischen Ableitung der paulinischen
Gesetzesanschauung ist m. E. verfehlt. Ziel der paulinischen
Argumentationen ist es - im Unterschied zu den
herangezogenen frühjüdischen Konzeptionen! - eben doch
nicht, angesichts des in Christus angebrochenen Eschaton zum
nun möglichen uneingeschränkten Toragehorsam aufzufordern,
auch wenn Paulus dem Tun des Gotteswillens durch die Christen
Raum gibt. Weder seine Position zur Beschneidung noch seine
Aussagen zur Funktion der Tora noch vor allem die Gesetzespraxis
, die er selbst an den Tag legt und seinen Gemeinden empfiehlt
(vgl. Gal2,ll-14; Rom 14,1-15,13; 1 Kor9,19-23), lassen sich
allein aus biblisch frühjüdischen Konzeptionen herleiten. Thielman
selbst räumt dies zwar gelegentlich ein (vgl. 101. 103. 111.
120), sieht aber seine Grundthese dadurch nicht gefährdet. Hier
wird weitere Diskussion nötig sein.

Martin sieht seinen Beitrag zur Forschungsdebatte darin, "to
relate the negative and positive Statements on the law to the belie-
ver's participation in the death and resurrection of Jesus, and to
show that Christ is the telos of the law in Rom 10:4 in the sense
that for the believer he ends the enslavement, condemnation, and
death which the law has brought" (2). Nach einem kurzen Überblick
über die paulinischen Gesetzesaussagen (3-20) erhebt er
aus der Fülle der einschlägigen Sekundärliteratur die wesentlichen
Sachfragen: Sprachgebrauch, Verhältnis von Moral- und
Zeremonialgesetz, Ursprung und Zweck der Tora, Widersprüche
bzw. Entwicklungen im Gesetzesverständnis, Bewertung und
Funktion der Tora für die Christen (21-68). Die folgenden drei
Kpp. bestehen im wesentlichen aus Zusammenstellungen einzelner
paulinischer Aussagen unter den stark systematisierenden
Überschriften The Problem: Sin, Death, Law, and Flesh (69-
108), The Solution: The Death and Resurrection of Christ (109-
128), The Synthesis: Christ the End of the Law (129-154). Man

vermißt hier weitgehend eigenständige Analysen der Textzusammenhänge
und ihrer Aussageabsicht gegenüber den jeweiligen
Briefadressaten. Häufig referiert Martin zu ausgewählten Problemen
Positionen der Forschung und wählt dann, ohne neue Argumente
beizubringen, eine als seine eigene aus. Aus dem systematischen
Aufbau der Darstellung ergeben sich zudem zahlreiche
Wiederholungen. So ist dieser Hauptteil seiner Untersuchung
wohl als Überblick über die gegenwärtige Diskussion zum paulinischen
Gesetzesverständnis brauchbar, trägt aber zur Lösung
der exegetischen Probleme nur wenig bei. Lediglich Rom 0A
wird etwas ausführlicher in seinem Zusammenhang untersucht
(134-141) und im Sinne der o. g. Zielstellung ausgewertet (142fD-

Die Ergebnisse Martins (155f) sind, wie auch ein Vergleich mit
Thielman zeigt, durchaus diskutabel: Differenzen im paulinischen
Gesetzesverständnis seien wesentlich situations-, teilweise
auch entwicklungsbedingt. Im Blick auf Ursprung und Zweck der
Tora gebe es Beziehungen zu jüdischen Auffassungen, wenngleich
sich ihre Funktion aufgrund des Christusgeschehens für
Christen gewandelt habe (Martin betont stärker als Thielman die
christologische Grundüberzeugung als Voraussetzung der paulinischen
Gesetzesaussagen). Positive und negative Bewertungen
der Tora zerstören nicht die grundlegende Einheitlichkeit der
paulinischen Anschauung ("a coherent total view of the law •
156), da sie aus der Unterscheidung zwischen dem Gesetz "as a
means of salvation and as a way of life for the Christian '* herrühren
(ebd.). Für Christen bleibe die Tora Gotteswille, dem sie. ausgerüstet
durch den Geist, als bereits Gerettete gehorsam sein können
. Ob freilich diejenigen, die bisher andere Meinungen zum
paulinischen Gesetzesverständnis vertreten haben, sich von
Martins Ergebnissen überzeugen lassen werden, wird angesichts
der Mängel seiner Untersuchung in Methode und Durchführung
zu bezweifeln sein.

Beide hier vorgestellten Untersuchungen dokumentieren den
gegenwärtigen Stand und die Schwierigkeiten der exegetischen
Erschließung paulinischer Briefaussagen zum Stichwort und Vorstellungskomplex
Gesetz (vgl. die einander ergänzenden Bibliographien
sowie die Namen-, Stellen- und - bei Martin - Sachregister
). Weiterführende Impulse enthält vor allem Thielmans
Arbeit. Auch hermeneutische Reflexionen der Untersuchung
und ihrer Ergebnisse finden sich vorwiegend bei ihm. Für beide
Arbeiten kennzeichnend ist, daß sie sich ihre Fragestellungen
weitgehend aus der Sekundärliteratur vorgeben lassen und die
paulinischen Aussagen primär thematisch behandeln. Rhetorisch
-textpragmatische Fragestellungen spielen kaum eine Rolle.
Vielleicht wäre aber gerade unter ihrer Berücksichtigung durch
erneute Untersuchung und Interpretation der theologischen Aussagezusammenhänge
der Paulus-Briefe und ihrer Wirkabsichten
gegenüber den jeweiligen Adressaten am ehesten ein Fortschritt
bei der Klärung des paulinischen Gesetzesverständnisses zu erreichen
.

Leipzig Karl-Wilhelm Niebuhr

Blomberg, Craig L.: Interpreting the Parables of Jesus: Where Are We
and Where Do We Go from Here? (CBQ 53. 1991. 50-78).

Charles, J. Daryl: Literary Artifice in the Epistle of Jude (ZNW 82.
1991, 106-124).

Classen, Carl Joachim: Paulus und die antike Rhetorik (ZNW 82. 1991.
1-33).

Dewey, Joanna: Mark as Interwoven Tapestry: Forecastsand Echoesfor
a Listening Audience (CBQ 53, 1991. 221-236).

DufT, Paul B.: Metaphor. Motif. and Meaning: The Rhetorical Strategy
behind the Image „Led in Triumph" in 2 Corinthians 2:14 (CBQ 53. 1991.
79-92).

Dünn, James: Unity and Diversity in theChurch. A New Testament Perspective
(Gr. 71. 1990,629-656).