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Ausgabe:

1991

Spalte:

69-70

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Der Umgang mit den Toten 1991

Rezensent:

Winkler, Eberhard

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 1

70

Ertährbarkeit der Gottesherrschaft inhaltlich am innovativen und
alternativen Erneuerungshandeln festgemacht wird. Da unbezwcifel-
bar ist. daß „die .Zielgröße' Gottesherrschart .. . ständiges kritisches
Korrektiv gegenüber allem menschlichen Handeln ist und bleibt"
BI3), mag eine solche Frage zunächst erstaunen. Andererseits bedient
sich auch Lutz solcher Formulierungen zur Charakterisierung der
Oottesherrschaft bzw. des Willens Gottes wie „Humanisierung der
Welt" (187) oder „Gott will, daß das Leben der Menschen gelingt"
(485), es gehe um christliches „Bemühen um menschenwürdige
Lebensbedingungen Tür alle Menschen" (552). So gewiß nun dazu
angesichts der Unvollkommenhcit gesellschaftlicher Zustände ständige
Verbesserungen und ständiges Neuwerden notwendig sind, hatte
Goethe m. E. doch recht, als er in seinem Garten durch Aufeinanderschichten
von Quader und Kugel zum Ausdruck brachte, daß zu
gelingendem Leben sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaft
immer die Ausgewogenheit von Bewahrung des Guten und die
Fortbewegung auf das Bessere gehören und daher doch wohl beides als
gesellschaftliche Aufgabe der Christen gesehen werden müßte. Die
Kirche braucht daher konversative Charaktere in ihrer Mitte genauso
W|e alternative. Einseitige Neuerungs- und Verbesserungssucht kann
•Manchmal mehr Schaden stiften als gesundes Bewahren des Guten
und Bewährten.

Aber gerade dann, wenn man dies mit bedenkt, entfaltet das Buch
von Lutz, das durchgehend eine realitätsgerechte Bemühung um Ausgewogenheit
und Balance erkennen lä ßt, erst seine volle Bedeutung.
Denn es leistet im Teil III „Psychologische und soziologische Überlegungen
zur Realisierung des Konzeptes ständigen Neu-Werdens" und
•W Teil IV „Elemente einer an ständigem Neu-Werdcn orientierten
^■emeindepraxis". die zusammen weit über 300 Seiten ausmachen,
einen ganz unschätzbaren Dienst, indem es unter Berücksichtigung
neuerer psychologischer und soziologischer Einsichten aufzuzeigen
bemüht ist, wie denn nun diese Umkehr als Prozeß ständigen Neuwerdens
konkret und mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen
werden kann. Der Reichtum dieser Ausführungen läßt sich in einer
knappen Besprechung nicht einfangen. Bezeichnend für diese Teile
■st, daß nicht etwa nur z. B. das Phasenmodell E. H, Eriksons über die
'dentitätsbildung klar und übersichtlich referiert wird, sondern daß
schon bei dem Referat und dann nochmals in einem zweiten Durchgang
sehr konkret und praktisch gefragt wird, was das nun für das
christlich motivierte und von der Kirche angestrebte Neuwerden
bedeutet. Ähnliches gilt für die wichtige Auseinandersetzung mit
soziologischen Untersuchungen und Thesen.

Ich möchte dankbar bekennen, trotz der angedeuteten Anfragen an
e|nige Grundtendenzen des Buches, von ihm sehr viele Anregungen
und Einsichten empfangen zu haben, und bin gewiß, daß ich noch
häufiger nach ihm greifen werde. Dem Buch ist m. E. größte Aufmerksamkeit
innerhalb beider Kirchen zu wünschen.

Ber|in Hans-Hinrich Jenssen

Richter. Klemens [Hg.]: Der l mgan« mit den Totem. Tod und Bestat-
tung in der christlichen Gemeinde. Freiburg-Basel-Wien: Herder
'990. 200 S. 8- = Quaestiones Disputatae. 123. Kart. DM42,-.

Durch dieses Buch zieht sich das Anliegen. Diakonie und Liturgie
angesichts des Todes zu verbinden. Der Hg. erinnert daran, daß Julian
Apostata neben der Güte gegen die Fremden die Sorgfalt, die die Christen
aut die Bestattung ihrer Toten verwenden, als Grund für die Aus-

reitung des Christentums nannte. Es geht aber nicht nur um die
Bestattung als Dienst der Pietät an den Verstorbenen und Ausdruck
der Verbundenheit mit den Trauernden, sondern um die Auseinandersetzung
der Gemeinde mit der Realität des Todes in der Pcrspek-
!"Ve der durch die Auferstehung begründeten Hoffnung. „Wo Tod und

rauer nicht mehr zum Leben gehören ... ist auch das Christsein in
(|efahr". warnt K Richter in seiner Einführung. Die Tendenz, den

Tod aus dem Bewußtsein zu verdrängen, verstärkt den Trend, der

Begegnung mit dem Tod auszuweichen. Alles wird den Bestattungsinstituten
überlassen. Richter weist auf die vielfältigen Möglichkeiten
hin, die der Gemeinde im konkreten Umgang mit den Toten und
deren Angehörigen offenstehen.

Der Dogmatiker //. VorgrimUr spricht „von der Gegenwart und
dem Leben der Toten" (27-47). Er lehnt die These vom Ganztod des
Menschen ab und geht davon aus, „daß im Tod das Ich oder das Du
eines Menschen zu Gott gelangen". Die Toten „sollen und sie wollen
von uns umarmt werden". V. erinnert an das Erbe des afrikanischen
Ahnenglaubens in der Absicht, die Gemeinschaft der Lebenden mit
ihren Heimgegangenen zu stärken. - F. Merkel, der über den
„Umgang mit Toten und Trauernden als Thema evangelischer Theologie
und kirchlicher Praxis" schreibt (48-62), ist natürlich gegenüber
einer cura pro mortuis zurückhaltend, fragt aber m. E. mit Recht, ob
es nicht „eine glückliche Inkonsequenz" Luthers ist. daß er ein- oder
zweimal das Gebet für Verstorbene zugesteht, weil „die Trauer um
einen Toten der seelsorglichen Begleitung bedarf, die nicht durch
rigorose Regelungen, und seien sie dogmatisch noch so begründet,
unmöglich gemacht werden darf. - Für die orthodoxe Liturgie betont
A. Kallis, daß sie in angemessener Weise Trauer und Klage verbali-
siert. um die bittere Realität des Todes im Licht der Auferstehung zu
überwinden. R. Waltermann berichtet aus der Gemeindepraxis, wie
das Gedächtnis der Toten gepflegt wird und wie Laien dabei mitwirken
.

Mehrere Autoren erinnern an die Bedeutung des körperlichen Kontaktes
mit den Verstorbenen vor der Bestattung. „Der Umgang mit
Toten und Hinterbliebenen im Krankenhaus" soll nach W. Schweidl-
mann letzteren helfen, die Realifät des Todes auch im wörtlichen
Sirin durch das Berühren der Toten zu „erfassen". Emotionen sollen
Raum erhalten und zugleich mit Hilfe des Ritus begrenzt werden.

„Das christliche Todesverständnis im Spiegel der Friedhofs- und
Grabmalgestaltung" untersucht M. Ausel mit <3em Ziel, daß die
Gemeinde angesichts zunehmender Sprachunfähigkeit ihren Gliedern
hilft, „die christlichen Gräber zu Orten der Verkündigung christlicher
Hoffnung zu machen". - Die Hoffnung, daß die im Glauben Gestorbenen
„im Herrn" sind, begründet nach D. Emeis die Möglichkeit
einer neuen Nähe der Heimgegangenen zu den Hinterbliebenen. Der
Tisch des Herrn ist der Ort. der beide in besonderer Weise verbindet.
P. Schludoth plädiert dafür. „Erfahrungen der Kinder mit Sterben und
Tod" nicht zu verhindern, sondern sie an den Erfahrungen der durch
das Leid getroffenen Erwachsenen teilhaben zu lassen.

Als Exegeten handeln E. '/.enger über „Das alttestamentliche Israel
und seine Toten" (132-152) und Ä Löning über neutestamentliche
Aspekte, wobei er die kritische Haltung zur konventionellen Trauer
aus dem eschatologischen Vorbehalt gegenüber der von der Todesgewalt
dominierten Welt und aus „der existentiellen Betroffenheit im
Gedenken des Todes Jesu" erklärt. Zenger erläutert das ungeklärte
Verhältnis der Toten zu JHWH in der vorexilisehen Zeit und die
Herausbildung der ..Hoffnungsperspektive, daß der Tod die aelehle
innige Lebensgemeinschaft zwischen JHWH und einem Menschen
nicht einfach zerstören kann".

Juristische Informationen zur Totenfürsorge gibt /. Gaedke
(171-182), und anhangsweise stellt A- Th. Khouryden „Umgang mit
Sterbenden und Toten im Islam" dar. Ein Schriftstellen-, Namen- und
Sachregister erhöht den Informationswert des Buches, das auch auf
evangelischer Seite zum Nachdenken anregen sollte, ob die Verbindung
von wandernder und vollendeter Gemeinde nicht zu sehr in Vergessenheit
geraten ist. Es ist eine sinnvolle Quaestio disputanda. ob
wir auf evangelischer Seite nicht zu ängstlich sind, positiv etwas über
die Gemeinschaft mit den „im Herrn Entschlafenen" zusagen.

Halle/S. Eberhard Winklcr