Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1991

Spalte:

869-871

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Altermatt, Urs

Titel/Untertitel:

Katholizismus und Moderne 1991

Rezensent:

Stolz, Fritz

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

869

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 11

870

uber den Brauch und die Liturgie des Abendmahls für Kranke
Und Sterbende.

Hannov er Hans-Christian Piper

Ökumenik: Catholica

Altermatt, Urs: Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und
Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und
20. Jahrhundert. Zürich: Benziger 1989. 469 S. 8°. geb. sfr
48.-.

Urs Altermatt hat sich - als Historiker mit Schwerpunkt auf
der Schweizer Zeitgeschichte - vielfach mit Fragen des Katholi-
*ismus beschäftigt. Im vorliegenden Werk gibt er eine außerordentlich
instruktive Gesamtdarstellung des neueren Schweizer
Katholizismus.

Das einleitende Kapitel erläutert den methodischen Zugang,
Welcher unter dem Motto „Geschichte des Alltags und der klei-
nen Leute" steht. Diese „mentalitätsgeschichtliche" Perspektive
ervveist sich als außerordentlich fruchtbar; sie erhellt einen
Aspekt der Sozialgeschichte, indem sie auf Einstellungen, Verhaltensweisen
und Normen, also die Elemente der Kultur im engeren
Sinne, auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozia-
len Strukturen achtet. Altermatt stellt die Frage nach den
Veränderungen des Katholizismus im Rahmen dergesamtgesell-
Schaftlichen Veränderungen, die man insgesamt als „Modernisierung
" bezeichnen kann. Natürlich kommen auch Probleme
katholischer Hierarchie und Theologie zu Gesicht, also die für
die herkömmliche Kirchengeschichtsschreibung geläufigen Perspektiven
„von oben"; aber sie erscheinen hier als Hintergrund.
Damit ergänzt und korrigiert Altermatts Arbeit gängige Kirchen-
Seschichtsschreibung.

In seiner Darstellung geht Altermatt zunächst auf die „ katholische
Sondergesellschaft" ein, welche sich nach 1848, dem Sieg
der liberalen (und protestantischen) Kräfte im schweizerischen
Bundesstaat, ergeben hatte. Er stellt diese Entwicklung unter die
Stichworte „Identität und Emanzipation": Der „Rückzug der
Katholiken ins Ghetto" (dies der Titel einer früheren Publikation
Altermatts) verhilft zunächst einmal dazu, die eigene Identität
nach der Katastrophe wieder zu finden; und dank dem so neu
erworbenen Selbstbewußtsein ist schließlich eine schrittweise
-Modernisierung" möglich, d.h. eine Einpassung in die neuen
Politischen Gegebenheiten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen
der Entwicklung in den katholischen Stammlanden einerseits
und in der Diaspora andererseits: In den ersteren konsolidierte
sich ein neuartiger Typus von Katholizismus, welcher sich in vielerlei
Hinsicht vom traditionellen Katholizismus vormoderner
Zeit unterschied (durch hochgradige Normierung im Sinne der
Hierarchie, starke Vereinheitlichung, ultramontane Orientierung
usw.). Erst hier, in der Abwehr der liberal-protestantischen
Kräfte, entwickelte sich also eine bewußt konservative katholische
Mentalität. Andererseits brachte das 19. Jh. innerschweizerische
Migrationen größeren Ausmaßes; dabei kamen insbesondere
(beruflich und bildungsmäßig schlecht qualifizierte)
Katholiken als Arbeiter und Dienstboten in protestantische Gebiete
und bildeten hier eine zunächst sozial randständige Diaspora
.

Die weltanschauliche Landschaft der Schweiz war also im
19. Jh. zunächst ganz durch das Gegeneinander von protestantisch
-liberaler Mehrheit und katholisch-konservativer Minderheit
bestimmt (was gleichzeitig bedeutet, daß protestantischer
Konservatismus und katholischer Liberalismus marginalisiert
wurden). Erst mit der Zeit entstand als dritte Kraft der Sozialismus
, welcher dazu beitrug, daß katholisch- konservative und liberale
Kräfte allmählich zum beharrenden Bürgertum zusammenwuchsen
, welcher der modernen Schweiz ihr politisches Gepräge
gibt. Nachdem die Zwischenkriegszeit und die ersten Jahre
der Nachkriegszeit zu einem Höhepunkt der gesellschaftlichen
„Versäulung" geführt hatte, setzte mit den 60er Jahren unter
dem Einfluß der allgemeinen gesellschaftlichen Umformungen
deren Zerfall ein. Altermatt untersucht diese Vorgänge immer
wieder am Einzelfall; so beschreibt er etwa die Diaspora-
Verhältnisse am Beispiel Zürichs, er schildert Karrieren einzelner
Familien, welche typische Vorgänge illustrieren usw.

Das dritte Kapitel befaßt sich mit der eigentlichen Modernisic-
rungskrise des Katholizismus. Diese wird unter einem doppelten
Aspekt betrachtet, einerseits unter politisch-kulturellem, anderer
seits
unter wirtschaftlichem. Der Kulturkampf zeigt sich als Konflikt
mit dem sich entfaltenden Nationalstaat, der zcntralistische
Tendenzen aufweist und eigene kulturelle Ziele entwickelt, insbesondere
in der Bildungspolitik; demgegenüber entfaltet der Katholizismus
übernationale Perspektiven und setzt diese in eine eigene
Programmatik um. Konflikte um die Schule, um die
Wirksamkeit der Jesuiten (als besondere Exponenten des ultramontan
ausgerichteten Katholizismus) usw. waren Ausdruck
dieser Auseinandersetzung. Die wirtschaftliche Dimension zeigt
sich darin, daß sich der Liberalismus in der beginnenden Industrialisierung
entfaltet und in den städtischen Zentren zu Hause
ist, während der Katholizismus agrarisch-ländlich bestimmt
bleibt. Katholiken werden in die industrielle Arbeitswelt zunächst
nur als Unterschicht integriert. Beide Aspekte des Konfliktes
verlieren im Lauf des 20. Jh.s ihre Schärfe. Dem Katholizismus
gelingt es, sich politisch in einer Weise zu organisieren,
der politisch kompatibel ist und sich ins Bürgertum integriert, er
gewinnt Zugang zum modernen Bildungswesen; und es kommt
zum Anschluß an die wirtschaftliche Entwicklung. Damit aber
verliert die katholische Sondergesellschaft ihre Konturen.

Als Organisationsformen, die zur Herstellung und Wahrung
der katholischen Sondergesellschaft führten, nennt Altermatt
insbesondere die Vereine, welche alle möglichen Lebensformen
im Rahmen der zunehmenden Freizeitmöglichkeiten in katholischem
Geist prägen sollten. Hier galt es, katholische Werte zu
vergewissern und die Plausibilität katholischer Mentalität zu gewährleisten
. Mit dem Niedergang des „versäulten" Daseins trat
auch die Bedeutung dieses Vereinswesens zurück.

Ein besonderes Kapitel ist dem katholischen Alltag gewidmet.
Es enthält sehr konkrete Angaben über die kirchliche und private
, die offizielle und die „Volks"-Frömmigkeit, wobei einmal
mehr auffällt, wie eng diese Bereiche miteinander verzahnt sind,
in welchem Maße der offizielle Katholizismus breitenwirksam
und populär war.

Das fünfte und letzte Kapitel führt „vom Milieukatholizismus
zur Sektorenkirche". Dabei wird der eigentliche Übergang zur
Gegenwart beschrieben. Seit den 60er Jahren hat der Katholizismus
tiefgreifende Wandlungen durchgemacht; kirchenpolitischer
theologischer Ausdruck für den Wandel ist das 2. Vaticanum
, aber entsprechend der Darstellungsweise Altermatts bleibt
dieses Ereignis eher im Hintergrund; dargestellt wird der soziale
und religiöse Alltag, der ihm entspricht, wobei offen bleibt,
woher die eigentlichen Anstöße zur Veränderung kommen. In
dieser Phase erreicht der Katholizismus den Anschluß an die gesamtgesellschaftlichen
Entwicklungen, zumindest partiell: das
Phänomen der „Ungleichzeitigkeit" ist typisch für den Katholizismus
der jüngsten Vergangenheit, verschiedene Anpassungsgrade
an die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bestehen
gleichzeitig und liegen in Konkurrenz. Wo die Modernisierung
greift, bedeutet dies für den einzelnen Katholiken, daß seine konfessionellen
Bindungen zurücktreten, daß er nicht mehr in der
katholischen Sondergesellschaft beheimatet ist. individuell entscheidet
usw.; entsprechend wird die Bedeutung kirchlicher Nor-