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Ausgabe:

1991

Spalte:

816-817

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Thilo, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Frömmigkeit 1991

Rezensent:

Haustein, Manfred

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Seite 1, Seite 2

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Ein 2. Kapitel (81-192) läßt Irenaeus, aus den Quellen erarbeitet
, zu Wort kommen. Der Vf. hebt hinter aller Offenbarungserkenntnis
die apophatische Sichtweise bei I. hervor (98), um
gleichzeitig die Notwendigkeit der Offenbarung für die Offenbarungserkenntnis
, die allein Heilsgewißheit bieten kann, in Zusammenhang
mit der Rationalität der Hermeneutik des I. zu stellen
, was dieser als Argument gegen die Gnosis verwendet hat.
Diese Rationalität liegt in der zielgerichteten Offenbarungsgeschichte
selbst begründet. (107) wodurch eine der Logik gehorchende
Hermeneutik möglich wird. (132ff) Gnosis ist für I. nicht
nur Irrtum in den Glaubensinhalten, sondern Irrationalität und
Unsinn, deshalb abzulehnen (Adv. Haer. 3.12.11, hier 135).

Das 3. Kapitel behandelt die Methodologie Sahkaras, wobei
die „Häresie", gegen die sich Sahkara abgrenzt (vor allem Särhk-
hya), nicht als gesondertes Hauptkapitel behandelt wird, was
nicht nur formal - um der Parallele mit dem 1. Teil zu genügen -
nachteilig ist, da so Särhkhya und auch der Buddhismus im wesentlichen
aus der polemischen Perspektive Sahkaras wahrgenommen
werden. (193-221) Sahkaras Kausalitätsverständnis,
seine Abgrenzung vom Buddhismus und seine Epistemologie
werden übersichtlich behandelt, wobei aber die grundsätzlich
differierenden Denkformen zu wenig deutlich werden, so z.B.
die Einheit von Ontologie und Epistemologie, was bei Sahkara
unmißverständlich Konsequenzen für die Hermeneutik hat. Das
Kapitel ist aber eine gute Zusammenfassung der Philosophie
Sahkaras. Der Vf. stützt sich zu Recht auf Hacker, Mayeda und
K. H. Potter, vernachlässigt aber leider die z.T. hervorragenden
indischen Saiikara-Studien (Satchidananda Murti, Mahadevan
[im Lit.Verzeichnis genannt], sowie N. K. Devarajas Introduetion
to Sahkara 's Theory of Knowledge, 1962 [nicht genannt]).

Der Vergleich zwischen Irenaeus und Sahkara (Kap. 4) ist problematisch
: Erkenntnis der Offenbarung spielt für beide eine
Rolle, aber Erkenntnis (jnäna) ist doch für Sahkara etwas anderes
als für Irenaeus; die rein formale Ähnlichkeit der Offenbarungs-
Hermeneutik wird nicht inhaltlich gefüllt durch Ähnlichkeiten
im Identitätsbegriff, den der Vf. nicht klar diskutiert (245ff) - ta-
dälmya bei Sahkara (245) bedarf der Erläuterung. „Heil"
(moksa) ist das Ziel aller indischen Philosophien, und es kann nur
in einer direkten Erfahrung (anubhava) realisiert werden, die ein
Einssein von Subjekt und Objekt bei Ausschaltung aller mentalen
Konzepte bedeutet. Gibt es dafür Vergleichbares bei Irenaeus?
Der Vf. nennt nur den „existentiellen" Aspekt des Glaubens
ohne eine mögliche Verbindung zu moksa zu begründen. Der Vf.
hätte zeigen sollen, daß einem Geschichtsmythos ein spekulativer
Erwachens-Mythos gegenübersteht, insofern jnäna als anubhava
(existentielle Erfahrung) das Erwachen zu dem ist, was
immer schon ist. Daß auf einer tieferen identitätsphilosophischen
Ebene Parallelen existieren, muß und kann durch eine
Analyse des christlichen und vedäntischen Gottes- und Weltbegriffs
durchaus gezeigt werden, läßt sich aber kaum am Offenbarungsverständnis
behaupten, da sruti in einem anderen Referenzrahmen
gedacht wird als der christliche Offenbarungsbegriff,
was letztlich auch nicht verschwiegen wird: "Sankara establi-
shes the authenticity of revelation differently from Irenaeus."
(314) Dann aber wird das Argument von der Ähnlichkeit in der
Offenbarungs-Hermeneutik brüchig und bedürfte zumindest anderweitiger
Untermauerung. Auch wird man Vf. nicht zustimmen
können, wenn er Sahkaras karmakända (Lehrstück über das
Handeln) als pravrtti-dharma (Riten, die zu weltlicher Wohlfahrt
verhelfen) mit dem alttestamentlichen Gesetz vergleicht, wohingegen
jnänakända (Lehrstück über die Erkenntnis) - vom Vf.
wohl als nixnti-dharma (Geistesreinigung, die zur endgültigen
Befreiung führt) verstanden? - dem neutestamentlichen Evangelium
entsprechen soll. (337, vgl. 316) Eine solche Interpretation
bedeutet nicht nur ein Mißverständnis der Offenbarung der
Thora in der hebräischen Bibel, die durchaus Heil im theologi-

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sehen Sinn darstellt, sondern auch eine zu grobe Vereinfachung
der Verhältnisse von pravrtti und aivrtti.

Weitere Monita betreffen die Genauigkeit: Sanskritbegriffe
(auch im Glossar) werden inkonistent und gelegentlich falsch
(pratyaksa) umschrieben; modernere indische Theologen werden
pauschal und nur aus Sekundärquellen diskutiert; die letzte"
20 Jahre indischer Theologie sind kaum berücksichtigt; die Darstellung
der Atheismus-Diskussion des europäischen 19. Jh.s
sollte ausführlicher und genauer sein. (308) Die Arbeit wirft gute
Fragen auf, setzt aber bei ihren eigenen hermeneutischen Voraussetzungen
zu wenig Fragezeichen.

Regensburg Michael von Brück

Thilo, Hans Joachim: Frömmigkeit. Aus dem Reichtum der Traditionen
schöpfen. München: Kösel 1991. 231 S. m. 6 Abb. 8 •

Thilo, der Nestor der deutschen Pastoralpsychologie, hat mit
dem angezeigten Titel seinen zahlreichen Publikationen ein weiteres
Buch hinzugefügt. Wie mit seinen sexualethischen Schriften
(besonders „ Ehe ohne Norm?", 1978) beweist er abermals seine
seismographische Zeitfühligkeit. Die Problematik, der er sich
stellt, liegt in der Spannung zwischen einem deutlich sinkenden
Einfluß der Großkirchen und einer erwachten, suchenden Religiosität
(202), die inzwischen ein Breitenphänomen ausmacht
und offenbar nicht oder nur schwer kirchlich zu beheimaten ist-
Das Buch ist weiträumig angelegt. Man gewinnt den Eindruck,
daß der betagte (geb. 1914), aber ungebrochen zeitengagierte
Autor seine Sicht der religiösen Lage noch einmal im Zusammenhang
darstellen will.

Im Vorwort unterscheidet er zwischen Spiritualität, die „weit
über das hinausgehe", „was unser christliches Erbe vermittelt",
und Frömmigkeit, die „stärker ausgerichtet" sei „auf ein Leben
in und mit unseren Kirchen und Gemeinden". (9) Auch wenn
man diese Differenzierung nicht uneingeschränkt mitvollziehen
kann, es sei nur erinnert an die diffuse Fassung von „Frommsein
" bei Goethe, wird bereits hier die Bemühung des Autors
deutlich, möglichst viel von jener neuerwachten Religiosität ge-
meindewärts einzuweisen, gemeindlich zu integrieren.

Im I. Kapitel (11-58) behandelt Thilo „Ursymbole der Spiritualität
", nämlich den Weg, den Kreis sowie Kreuz und Kreuzweg
. Die unterschiedliche Vielzahl religiöser Begehungen. Prozessionen
, Wallfahrten, Aufbrüche und Zielwanderungen sowie
die Fülle der Umkreisungsriten werden mannigfach dargestellt,
wobei der Autor besonders durch seine profunden Kenntnisse
altgriechischer Religiosität beeindruckt. Zu den Ergebnisfeststellungen
, die im Blick auf eine „Ökumene der Religionen" von Gewicht
sind, gehört das Diktum des Vf.s. „daß die religiösen Vorstellungen
der Menschheit untereinander erstaunlich viele
Parallelen aufweisen". (32) Dabei geht die universale Sicht Thilos
aber durchgängig an keiner Stelle auf Kosten seiner äußerst
bewußten christlichen Identität. Die Thematik des II. Kapitels
(59-88) betrifft „Die Elemente als Quellen der Volksfrömmigkeit
". Der Verfasser weist auf, wieviel religiöses Brauchtum und
sakramentales Handeln gerade mit ihnen, Erde. Wasser, Feuer
und Luft, verknüpft ist. In diesem Zusammenhang stellt etwa die
Kerze ein umfassendes Phänomen dar, das Thilo „das Symbol
nennt, das die ganze Welt der Religionen" umspannt. (78) Diese
aufgewiesene beträchtliche Symbol-Konvergenz der Religionen
einschließlich des Christentums verdeutlicht, wie tief dieses unbeschadet
seiner unverwechselbaren Eigenheit in das Menschheitlich
-Religiöse eingebettet ist. Bekannte Versuche einer Entre-
ligiosierung des christlichen Glaubens erweisen sich von daher
als ebenso töricht wie irreal.

Kapitel III (89-111) behandelt „Säkulare Formen der Fröm-

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 10