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Ausgabe:

1991

Spalte:

59-61

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Christoffer, Uwe

Titel/Untertitel:

Erfahrung und Induktion 1991

Rezensent:

Honecker, Martin

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 1

60

Systematische Theologie: Ethik

Christoffer, Uwe: Erfahrung und Induktion. Zur Methodenlehre
philosophischer und theologischer Ethik. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag
; Freiburg-Wien: Herder 1989. 227 S. 8° = Studien
zur theologischen Ethik, 28. Kart. sfr28.-.

Die von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität
Tübingen 1988 angenommene und vom Moraltheologen D. Mieth
betreute Dissertation verbindet im Titel die Begriffe Erfahrung und
Induktion. Karl Lehmann hat vor 20 Jahren betont: „Erfahrung zählt
zu den rätselhaften Begriffen der Philosophie. Gewöhnlich erscheint
Erfahrung als Quelle oder Sonderform unserer Erkenntnis, die im
Unterschied zum diskursiven Denken, zum bloß Gedachten, zum
autoritätsmäßig Angenommenen (Dogma) und geschichtlich Überlieferten
(Tradition) dem unmittelbaren Empfang des Gegebenen oder
eines Eindrucks entspringt." (HTTL2, (1972), 164). Man kann und
muß zudem äußere und innere Erfahrung, sinnliche und übersinnliche
Erfahrung, transzendentale und empirische Erfahrung unterscheiden
. Ahnlich wie K. Lehmann bewertete auch H.-G. Gadamer
(Wahrheit und Methode, 19 7 54, 329) den Gebrauch des Wortes Erfahrung
: „Der Begriff der Erfahrung scheint mir - so paradox es klingt -
zu den unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die wir besitzen. Weil
er in der Logik der Induktion für die Naturwissenschaften eine führende
Rolle spielt, ist er einer erkenntnistheoretischen Schematisierung
unterworfen worden, die mir seinen ursprünglichen Gehalt zu
verkürzen scheint." Gadamer erinnert dagegen betont daran, daß
schon Dilthey dem englischen Empirismus Mangel an geschichtlicher
Bildung vorgeworfen habe. Der Begriff Induktion. Epagoge, geht
bekanntlich auf Aristoteles zurück. Aristoteles definiert die „Heranführung
", inductio als „Weg vom Einzelnen zum Allgemeinen".
(Topica I, 10, 105 a. 13). Wenn U. Christoffer im Titel seiner Arbeit
die Begriffe Erfahrung und Induktion miteinander verknüpft, verengt
er somit also von vornherein die Thematik der Erfahrung auf eine
Mcthodenlehre und auf die Diskussion induktiver Verfahren.

Die Einleitung betont: „Methodenfragen sind für die Wissenschaften
zur Sicherung ihrer Erkenntnisse und zur Begründung ihres Wahrheitsanspruchs
sachnotwendig." (7). Die Dissertation besteht aus
6 Einzelkapiteln, die jeweils in sich relativ geschlossen sind. Diese
Einzelstudien interpretieren einzelne Texte und referieren Inhalt und
Diskussion der Argumente recht ausführlich. Die Arbeit ist als Darstellung
insoweit informativ.

Der I. Hauptteil „Wissenschaftstheoretische Grundlegung. Zur
Bestimmung der Alternative .Induktion' und .Deduktion' am Beispiel
der aristotelischen Philosophie und des Kritischen Rationalismus
" besteht aus drei darstellenden Kapiteln: 1. „Die Induktion in
der Philosophie des Aristoteles" (13 ff). Im Rückgang auf die Herkunft
der Methode der Induktion wird die Einführung des Verfahrens
induktiven Schließens in Aristoteles' Topica beschrieben; es werden
dessen Ausführungen zur Induktion und die Kritik an dessen Argumentation
(40-42) vorgeführt.

Das 2. Kapitel „Das Problem der Induktion im Kritischen Rationalismus
" (45ff) setzt dazu einen Kontrapunkt. Die prinzipielle
Ablehnung der Induktion durch K. Popper und den Kritischen Rationalismus
fordert als Alternative einen deduktivistischen Theorieansatz
und führt ein Falsifikationsprinzip ein. Die Induktion und
damit die Begründung wissenschaftlicher Logik auf Erfahrung wird
vom Kritischen Rationalismus Poppers prinzipiell verworfen und
bestritten. Aus der Erkenntnistheorie des Kritischen Rationalismus
wird dabei freilich im Interesse der Objektivität der Erkenntnis das
erkennende Subjekt eliminiert (59ff). Die kritische Auseinandersetzung
(64-74) mit Popper betont dagegen die hermeneutische Notwendigkeit
der Induktion. Induktion ist als „transzendentale Hermeneutik
" (73) unverzichtbar. Das 3. Kapitel „Ethik im Kontext einer
Methodologie der kritischen Prüfung" (75ff) ergänzt die Kritik an der
Induktion in der Alternative von Aristoteles oder Kritischem Rationalismus
durch die Darstellung der Modifikation an Poppers Argumentation
durch H. Albert. H. Alberts umfassendes Rationalitätsprogramm
will Poppers Dezisionismus korrigieren, indem Albert
dessen „irrationalen Glauben an die Vernunft" (83) durch den Rückgriff
auf die Wissenschaftslehre Max Webers und den Entwurf einer
kritisch-regulativen Meta-Ethik weiterzuentwickeln versucht. Im
Anschluß an die Darstellung von Alberts Intention referiert Christoffer
die Einwände von J. Habermas (95ff) und W. Korff (lOOff) gegen
Alberts Position ausführlich.

Während der I. Teil der Grundlegung in der Wissenschaftstheorie
gewidmet war, bezieht sich der II. Hauptteil „Erfahrung und Ethik. Das
Konzept eines induktiven Ansatzes in der theologischen Ethik" auf die
ethische Methodenfrage. Das 4. Kapitel „Empirische Wissenschaften
und theologische Ethik" (11 lff) informiert über die Berufung auf die
Humanwissenschaften in der gegenwärtigen katholischen Mo.raltheolo-
gie. A. Auers autonom-induktiver Ansatz (111 ff), J. Gründels Unterscheidung
von Quellen und normierenden Instanzen in der Moraltheologie
(114fT) mit der Kritik an einer deduktiven Moralmetaphysik
(118), Thomas von Aquins Paradigma der inclinationes naturales
(126ff), die Auffassung von Ethik als integrierender Wissenschaft (132),
die Konvergenzargumentation (133ff), Überlegungen von Mieth und
Korff (137) werden zur Sprache gebracht.

Das ist ein bunter Strauß von Ansätzen, die freilich alle darin konvergieren
, daß sie die Kooperation der Moraltheologie mit den Humanwissenschaften
für unerläßlich halten. Die induktive Methode hat also
ganz praktische Bedeutung für das Vorgehen der Moraltheologie.

Das 5. Kapitel „Ethos und Ethik. Rekonstruktion der philosophischen
Voraussetzungen nach Aristoteles" (147ff) befragt die
Nikomachische Ethik auf induktive Verfahren in der praktischen
Philosophie. Leitend ist hier O. Höffes Aristotelesdeutung (148IT; vgl.
auch 168 ff) und die aristotelische Bestimmung des Begriffs des Guten.
Praktische Vernunft bewährt sich in dieser Interpretation als Klugheit
: „Der Kluge handelt dann aus sittlicher Erfahrung und aus einem
reflexiven Wissen der Vernunft: Er verwirklicht das sittlich Gute, weil
er es aufgrund von Belehrung und Gewohnheit als gut erfahren hat."
(167). Das 6. Kapitel „Erfahrung und induktive Methode in der Theologischen
Ethik" (177ff) ist der Rezeption der aristotelischen Argumentation
in der Moraltheologie gewidmet. Sachlich und thematisch
ergeben sich dabei Überschneidungen zum 4. Kapitel: Ethische
Induktion bei Thomas von Aquin und dessen Lehre vom sittlichen
Naturgesetz (177ff- im Anschluß an W. Kluxen, F. Böckle, K. W.
Merks), die Unterscheidung von sittlich relevanten Gütern und sittlichen
Normen in der heutigen Moraltheologie (190ff), W. Korffs
Begründung sittlicher Normen in der Vernunft (193ff), D. Mieths
Berufung auf die Erfahrung als Ort der Entstehung sittlich relevanter
Einsichten (196ff). A. Auers Bestimmung des christlichen Propriums
im Kontext autonomer Moral (202ff), schließlich E. Schillebeeckx
(208 IT) sind Schwerpunkte der berichtenden Darstel 1 ung.

Der sehr knappe „Schluß" (213-218) resümiert Vorgehen und
Ergebnis. Christoffer' kritisiert zurecht einen radikalen Dualismus
zwischen Tatsachen und Entscheidungen, auf dem die Zurückweisung
des induktiven Vorgehens im Kritischen Rationalismus beruht (214f).
Dem Vf. geht es dagegen um Notwendigkeit und Recht einer „hermc-
neutischen Induktion" (217), die methodisch und praktisch von
einem allgemeinen sittlichen Vorverständnis ausgeht und dieses auf
Gewohnheit beruhende Vorverständnis dann in vernünftiger Einsicht
klärt. Eine eindeutige Konfrontation von Vernunft und Erfahrung,
von kritischer Rationalität und induktivem Vorgehen, das vom
Besonderen zum Allgemeinen führt, schafft Aporien, die der Vf.
herausarbeitet. Trotz dieses m. E. zutreffenden Ergebnisses und der
sorgfältigen und fleißigen Einzelanalysen legt man freilich die Arbeit
nicht richtig überzeugt aus der Hand. Sie ist in ihren Aussagen eher
additiv, als daß sie einen konsistenten Gedankengang entwickelt und
entfaltet. Denn die Fragestellung des Kritischen Rationalismus, der
das Induktionsverfahren ablehnt, und der Katholischen Moraltheologie
sind doch vom Ausgangspunkt her recht verschieden.