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Ausgabe:

1991

Spalte:

771-773

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Böttrich, Christfried

Titel/Untertitel:

Weltweisheit, Menschheitsethik, Urkult 1991

Rezensent:

Böttrich, Christfried

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 10

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einer Weise angeregt, die auch das Gesprächserleben „in einem
anderen als dem christlichen Deutehorizont" offenläßt (175).
Das dürfte ein vor allem in einer säkularisierten Gesellschaft notwendiger
Aspekt Tür die Seelsorgetheorie sein. Hier wird also der
Gefahr einer klerikalen Vereinnahmung durch theologisierende
Interpretation widerstanden und so das seelsorgerliche Gespräch
in den weiten Raum einer „Kultur des Gesprächs" gestellt. Für
eine solche Konzeption ist es freilich notwendig, daß es neben
dem Gespräch in der Seelsorge (Ebene 1) und seiner wissenschaftlichen
Analyse (Ebene 3) die Möglichkeit eines „ Gesprächs
über das Gespräch" (Ebene 2) gibt als eine Reflexionsmöglichkeit
im Erfahrungsraum des Seelsorgers, wie sie in der KSA tatsächlich
zur Verfügung steht (vgl. 13; 167).

Es ist das Verdienst Nicols, eine in sich stringente Theorie des
seelsorgerlichen Gesprächs entworfen zu haben, die klerikale und
therapeutische Verengungen weithin vermeiden hilft. Es ist
schade, daß die Vorstellung des eigenen Modells vom „existentiellen
Gespräch" auf so knappem Raum erfolgt und noch dazu
mit reichlichen Distinktionen etwas überfrachtet wirkt. So fällt
es dem Leser nicht ganz leicht, sich die Klarheit, zu der der Verfasser
ihm geholfen hatte, zu erhalten. Hier hätte man sich noch
einen Erfahrungsbericht - etwa von einer Gesprächssupervision
- gewünscht. Dennoch: Man legt dieses Buch (dem auch der Verlag
eine bemerkenswert ansprechende Gestalt gegeben hat) dankbar
aus der Hand. Es handelt sich hier um eine für die Seelsorgelehre
grundlegende und bedeutsame Arbeit. Dabei zeigt sich
wieder einmal, wie fruchtbar es sein kann, einen bekannten Problemzusammenhang
von einem anderen als dem gewohnten
Ausgangspunkt her zu beleuchten.

Leipzig Jürgen Ziemer

Referate über theologische
Dissertationen in Maschinenschrift

Böttrich, Christfried: Weltweisheit - Menschheitsethik - Urkult.
Studien zum slavischen Henochbuch. Diss. Kirchliche Hochschule
Leipzig 1990. 197 S.

Unter den sog. Pseudepigraphen des Alten Testaments nimmt
das slavische Henochbuch (slHen) eine Sonderstellung ein. Der
nur kirchenslavisch erhaltene Text und seine erst spät (im 14. Jh.)
einsetzende hsl. Überlieferung rieten bislang zu einer sehr vorsichtigen
Benutzung der Schrift in der Erforschung der ntl. Zeitgeschichte
.

Ziel der Arbeit ist es deshalb, beim gegenwärtigen Forschungsstand
eine Interpretation des slHen zu versuchen, die seinen
Zeugniswert für die Vorstellungswelt des Judentums zur Zeit
Jesu neu beurteilt.

Im ersten Teil (Vorfragen) geht es zunächst darum, alle bisherige
Arbeit sowie alle erreichbaren Informationen zum slHen zu
sammeln und auszuwerten. Die Hss.-Liste und die Bibliographie
bieten eine Vervollständigung bzw. Korrektur der bisherigen Instrumentarien
. Ein Überblick über die Forschungsgeschichte referiert
die oft nur sehr schwer zugängliche Sekundärliteratur und
führt Beobachtungen aus verschiedenenen Disziplinen zusammen
. Als Grundlage der weiteren Untersuchungen dienen die kir-
chenslavischen Hss., soweit sie veröffentlicht sind, während die
englische Übersetzung F. I. Andersens (OTPs I, New York 1983,
91 -221) als bevorzugter Vergleichstext sowie als Maßstab für alle
Zitate herangezogen wird. Die lange Zeit maßgebliche Ausgabe
des Textes durch A. Vaillant (Paris 1952) kann hingegen dem fortgeschrittenen
Forschungsstand nicht mehr genügen.

Der zweite Teil (Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte
des slHen) nimmt einen besonders breiten Raum ein, da

sich in der Auswertung der Forschungsgeschichte eine Rekonstruktion
der Überlieferungsgeschichte als wichtigste Vorbedingung
einer jeden weiteren Beschäftigung mit dem slHen ergeben
hatte. Die Ermittlung der Urgestalt des Textes erfolgt in einem
Zweischritt - von einer Untersuchung der einzig literarisch belegten
Überlieferung im slavischen Bereich aus erfolgt die Rückfrage
auf die Überlieferung in dem vorauszusetzenden griechischen
Bereich. Für den slavischen Bereich stützt sich die
Untersuchung neben textkritischen Einzelbeobachtungen v°r
allem auf die bislang noch kaum berücksichtigten Kontextmanuskripte
und gelangt zu dem Ergebnis, daß dem Text eine
schrittweise Kürzung und Überarbeitung widerfuhr - ursprünglich
in unthematisierten Sammelbänden beheimatet, wurde er
mit seiner Einbindung in einen chronographischen Kontext beschnitten
und gestrafft; für die Aufnahme in einen juristischmoralischen
Sammelband schließlich erhielt der Text dann eine
völlig neue, fragmentarische Gestalt. Die Rekonstruktion der
Überlieferung im griechischen Bereich geht deshalb von den längeren
Hss. aus. Mit Hilfe literarkritischer Beobachtungen lassen
sich dabei Einschübe oder redaktionelle Veränderungen jüdischmystischen
, frühchristlichen und byzantinisch-chronographischen
Charakters feststellen, die ein schrittweises Wachstum des
Textes belegen und den Weg seiner Überlieferung andeuten. Der
Grundbestand aber muß als eine jüdische Schrift bewertet werden
, die noch vor dem Jahre 70 entstand.

Der dritte Teil (Untersuchungen zur Theologie des slHen) baut
mit dem Versuch einer Interpretation auf dieser neugewonnenen
Textgrundlage auf. Wesentlich ist hier vor allem der Nachweis-
daß die Erzählung um Melchisedeks wunderbare Geburt (die
lange Zeit als Anhang bzw. später christlicher Zusatz bewertet
wurde) einen integralen Bestandteil des Ganzen darstellt. So ergibt
sich eine klare formale und thematische Dreiteilung, die von
den Fragen nach Weisheit, Ethik und Kult bestimmt ist. Henoch
und Melchisedek spielen dabei die Rolle von Integrationsfiguren,
die den überkommenen jüdischen Glauben mit den Herausforderungen
der hellenistischen Umwelt vermitteln sollen. In Kap-
1-38 verbindet Henoch auf einer Himmelsreise jüdischen
Schöpfungsglauben und jüdische Eschatologie mit kosmogoni-
schen und kosmologischen Vorstellungen der hellenistischen
Welt. In Kap. 40-67 schafft Henoch mit den Belehrungen an
seine Söhne eine Basis, auf der das Zusammenleben mit einer
nichtjüdischen Umwelt möglich wird. In Kap. 68-73 schließlich
repräsentiert Melchisedek als eine völlig jenseitig vorgestellte
und mit dem Priesterkönig aus Gen 14 nicht identische Gestalt
die urzeitliche Legitimierung und jenseitig-urbildliche Garantie
des priesterlichen Kultes. In allen drei Teilen tritt ein Universa-
lismus ganz eigener Prägung zutage. Das Bemühen um einen
weisheitlichen Konsens, einen praktischen modus vivendi und
die Ermöglichung einer Akzeptanz des priesterlichen Kultes,
dem jeder polemische oder apologetische Zug fehlt, zeigen das
slHen als ein Glaubenszeugnis zwischen Selbstvergewisserung
und Selbstdarstellung. Es werden die Konturen eines Diasporaju-
dentumes (sehr wahrscheinlich in Alexandrien) sichtbar, das
apokalyptische Traditionen in einer Weise umgeformt hat. wie
sie dem Denken, dem Weltverhältnis und der Religiosität der hellenistischen
Welt nachvollziehbar sein mußte. Dennoch aber
bleiben die jüdischen Glaubensgrundlagen, namentlich die Einzigkeit
Gottes, strikt gewahrt.

Im vierten Teil (Gesichtspunkte zur Bedeutung des slHen für
die ntl. Exegese) werden dann noch einmal jene Züge des slHen
benannt, die für die ntl. Exegese von besonderem Interesse sind.
Die zahlreichen Analogien zwischen Vorstellungen des slHen
und verschiedenen ntl. Aussagen sind weniger auf unmittelbare
Beziehungen als auf ein gemeinsames Milieu zurückzuführen -
das Milieu eines aufgeschlossenen Judentums in der Diaspora, in
dessen Kreisen auch die christliche Mission ihren Weg zu den