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Ausgabe:

1991

Spalte:

703-705

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Holmberg, Bengt

Titel/Untertitel:

Sociology and the New Testament 1991

Rezensent:

Theißen, Gerd

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 9

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indifferent - unterscheiden lassen. Und in der Tat laßt sich etwa
die Hälfte bis zwei Drittel der Studenten dem frommen (Typ 12)
und dem liberalen (Typ 6) zuordnen. Heide Typen weisen charakteristische
Unterschiede auf. was die eigene religiöse Praxis, die
Lektüre, die bevorzugten Hochschullehrer usw. anbetrifft.

Entgegen der Ausgangshypothese zeigt sich jedoch, daß sich
diese Typen im Verlauf des Studiums nur sehr geringfügig verändern
. Lediglich in den mittleren Semestern vergrößert sich leicht
der liberale Anteil. Zum Ende des Studiums läßt dies aber wieder
nach. Die meisten bleiben, wie sie sind. Die postulierte produktive
Krisenerfahrung findet also so nicht statt und entsprechend
prekär stellt sich auch die erworbene Kompetenz dar. Die frommen
Typen gehen sozusagen selbstbewußt und wenig von Kritik
berührt auf die Kerngemeinden zu. während die liberalen ohne
deutliche praxisorientierte Perspektive eher angstbesetzt den
Schutzraum der Universität notgedrungen verlassen müssen. In
beiden Fällen kann das Ergebnis nicht befriedigend sein. Die
Frommen werden trotz aller Klarheit im Handeln unter Kommunikationsbarrieren
zu leiden haben, während die Liberalen zwar
breit kommunizieren können, aber unsicher in der Handlungspraxis
sind. Gerade diese stabilen Haupttypen von Theologiestudenten
erweisen sich so als defizitär und das Studium als offensichtlich
nicht in der Lage, diese Defizite aufzuarbeiten. Es
könnte von daher gut sein, daß die indifferenten und Mischtypen
, die sich während des Studiums unter dem Einfluß neuer Erfahrungen
verändern, weitaus eher in der Lage sind, pastorale
Kompetenz zu erwerben.

Es ist die Stärke des Engelsschen Buches, daß dieses Fazit kritisch
auf seine Ausgangsüberlegungen zurückgelenkt wird. Denn
wenn sich religiöse Typik derart stark unter kritischem Einfluß
durchhält, dann muß die Vorstellung von einer offenen, flexiblen
Identität revidiert werden. Es ist offensichtlich so. daß gerade religiöse
Identität derart stark in der Persönlichkeit verankert ist.
daß sie sich auch unter .zersetzenden" Bedingungen kontinuierlich
durchhält. „Die subjektiv angeeignete theologische Position
steht in deutlichem Zusammenhang mit Persönlichkeitsvariablen
, die gerade auch in der Gestalt einer bestimmten Frömmigkeitspraxis
Eingangsbedingungen für den Studienprozeß darstellen
." (Daiber/Josuttis im Vorwort S. 6). Religiosität ist. so folgert
Engels, eine „ontogenetisch früh ausgebildete und strukturell tiefsitzende
Persönlichkeitskomponente ... die sich gegenüber situa-
tionsvariablen Einflüssen als wenig veränderungsanfällig erweist
" (225). Die Erwartung der einen, die Furcht der anderen,
daß sich Theologiestudenten unter dem Druck des Studiums säkularisieren
würden, erfüllt sich folglich nicht.

Diese Untersuchung leistet so einen wichtigen Beitrag zum
Verstehen von Religiosität und damit sicherlich auch zur Klärung
sich durchhaltender kirchlicher Kontroversen. Es scheint so
zu sein, daß grundlegende pastorale Positionen der diskursiven
Kritik kaum zugänglich sind. Und es könnte gut sein, daß sich
dieses Ergebnis auf christlich-religiöse Praxis allgemein übertragen
läßt. Volkskirchlich wäre dann mit der prinzipiellen Vorgegebenheit
von Religion zu rechnen. Die Vcrändcrungschanccn
durch die Bcwußtmachung des Glaubens sind gering. Zufrieden
macht dieses Ergebnis allerdings nicht.

C elle Gerhard Wcgncr

Holmberg. Bengt: Sociology and the New Testament. An Apprai-
sal. Minneapolis: Fortrcss Press 1990. VII. 173 S. 8 .

B. Holmberg ist Dozent für Neues Testament an der Universität
Lund. Er hat selbst einen wichtigen Beitrag zur Sozialgeschichte
der paulinischen Gemeinden vorgelegt: "Paul and
Power". Lund 1978. Sein neues Buch ist eine methodologisch
orientierte Bilanz ausgewählter sozialgeschichtlicher und soziologischer
Beiträge zur Erforschung des Neuen Testaments. Besprochen
werden drei Thcmenkomplexe: die Schichtzugehörig"
keit der ersten Christen, die Deutung des Urchristentums als
„millenarian movement" und „Sekte" sowie wissenssoziologi"
sehe Analysen urchristlicher Überzeugungen.

1) H. stellt den Übergang vom „alten Konsens", der das Urchristentum
in den unteren Schichten verwurzelt sah. zu einem
sich differenzierenden „neuen Konsens" dar: Es sei in den hellenistischen
Städten bald in relativ gehobene Schichten eingedrungen
, sei aber immer von politischer Macht ausgeschlossen gewesen
(E. A. Judgc. H. Krcissig. H. Gülzow. A. Malherbe. R. Hock-
G. Thcissen und W. A. Meeks). Ausführlich werden Arbeiten besprochen
, die dem „neuen Konsens" widersprechen (J. G-
Gager: W. Stegemann) bzw. gegenüber der Möglichkeit eine1
Schichtzuordnung der ersten Christen skeptisch sind (G. Schöll-
gcn). H.s eigener Beitrag besteht darin, daß er zwischen "repre-
sentative" und "distributive analysis'* unterscheidet (691). Er
hält die Frage, in welchen Schichten die ersten Christen repräsentiert
waren, für beantwortbar. die Frage, wie sie sich quantitativ
auf die verschiedenen Schichten verteilen, dagegen für unbeant-
wortbar. auch wenn eine "qualitative distribution analysis" (anders
gesagt: eine grobe Schätzung) möglich sei.

Kritisch möchte ich nur einen Punkt anmerken: Es mag eine'1
„neuen Konsens" geben, einen „alten Konsens" hat es dagegen
nie gegeben, es sei denn, man beschränke ihn auf A. Deißmann.

F. Engels und K. Kautsky. Schon immer hat man gesehen, daß
das Urchristentum Mitglieder auch aus gehobenen Schichten
umfaßt, vgl. J. Hascnclever: Christliche Proselyten der höheren
Stände im l.Jh., JPTh 8 (1882) 34-78.230-271 und R. Knopf
Über die soziale Zusammensetzung der ältesten heidenchristlichen
Gemeinden, ZThK 10(1900) 325-347).

2) Der zweite Hauptteil diskutiert die Anwendung eines durch
komparative Methodik gewonnenen soziologischen Konzeptes
auf das Urchristentum: die Interpretation des Urchristentums
alscinc millcnaristische Sekte. In dem Begriff "millenarian sect
sind zwei Konzepte verschmolzen, die getrennt diskutiert weiden
: Einmal das Konzept chiliastisch.cr Bew egungen, wie sie Ethnologen
in den Kulturen der dritten Welt beobachten konnten. J-

G. Gagcr wandte dies Konzept auf das ganze Urchristentum an.
W. A. Meeks auf das paulinische Urchristentum und R. Jewetl
auf die Gemeinde in Thessaloniki. Das zweite Konzept ist die Typologie
von „ Kirche und Sekte". Ausführlich wird deren Anwendung
auf das Urchristentum diskutiert: bei R. Scroggs auf das
ganze Urchristentum, bei J. Elliott auf 1 Pt. bei W. A. Meeks und
Ch. Rowland auf die Jesusbewegung, bei Ph. F. Esleraufdie lk
Gemeinden, bei F. Watson auf Paulus, bei M. Y. MacDonald au'
die paulinischen und deuteropaulinischen Gemeinden. Zu beiden
Konzepten stellt H. kritisch fest, ein echter quer-kultureller
Vergleich liege nicht vor: Hier werde das Urchristentum vielmehr
oft durch einen Vergleich mit Bewegungen erhellt, deren
Ziel es war, das „Urchristentum" nachzuahmen. Das komparative
Verfahren sei also zirkulär. Trotzdem bejaht er es. Umfassende
Typologien wie „Sekte" usw. hätten in jedem Fall einen
heuristischen, wenn auch keinen erklärenden Wert. Die Grenze
der beiden diskutierten Konzepte scheint mir auch darin zu liegen
, daß das Urchristentum u.a. eine Öffnungs- und Vereinigungsbewegung
war: Jüdische Gruppen formulierten ihr Judentum
so, daß es leichter für Heiden verschiedener Völker und
Kulturen zugänglich wurde. Auch dazu gibt es Analogien in der
Religionsgeschichte.

3) Ein dritter Themenkomplex bildet die Korrelation zw ischen
symbolischen und sozialen Strukturen, also die w isscnssoziologi-
sche Interpretation des Neuen Testaments. H. diskutiert hier als
erstes das Konzept des Wandcrradikalismus. Er kritisiert die in
ihm vorausgesetzte formgeschichtliche Prämisse einer Entsprechung
zwischen mündlicher Überlieferung und „Sitz im Leben"-
sondern erklärt mit der „skandinavischen Schule" (B. Gerhards-