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Ausgabe:

1991

Spalte:

683-686

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bayer, Oswald

Titel/Untertitel:

Zeitgenosse im Widerspruch 1991

Rezensent:

Seils, Martin

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 9

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Obgleich die Herausgeber fest davon überzeugt sind, daß Ock-
ham nicht der Vf. des „Ccntiloquium " ist. wurde es dankenswerterweise
mit aufgenommen. Es verließ 1495 in Lyon die Presse
und wurde 1962 in London nachgedruckt. Philotheus Bochncr
edierte es kritisch auf der Grundlage von zwei Handschriften und
dem Druck von 1495 in den "Franciscan studies" 1941 und
1942. Er erörterte in dieser Ausgabe bei einzelnen conclusiones.
ob ihr Inhalt der Lehre Ockhams entspreche. Diese Ausgabe
hatte in der 1927 aufgebrochenen neuen Ockhamforschung eine
wichtige Funktion, weil sie Aussagen der älteren Ockhamforschung
widerlegte, die sich auf das „Ccntiloquium*' berufen hatten
.

Etzkorn hat Bochners Text zugrunde gelegt, konnte aber noch
eine weitere Handschrift aus El Burgo de Osma hinzuziehen, mit
der der Druck von 1495 viele gemeinsamen Varianten hat. Da
Etzkorn wie Bochncr den Text der Erfurter Handschrift für den
besten hält, ergeben sich nur wenige Änderungen im Text. Aber er
hat ihn anders interpunktiert und im Apparat die Zahl der mitgeteilten
Varianten vergrößert, im „Ccntiloquium" angesprochene
Meinungen häufiger bei Ockham oder anderen Scholastikern
nachgewiesen und bei Aristoteles die Stellen nach der Ausgabe
von August Immanuel Bckkcr genau angegeben. Er hat aber die
Urteile von Bochncr. ob der Inhalt einer conclusio Ockham entspricht
oder seiner Lehre entgegensteht, nicht in die Anmerkungen
aufgenommen, so daß die ursprüngliche Ausgabe von Bochncr
auch weiterhin Beachtung verdient.

Den Schluß bildet der „Tractatus de prineipiis theologiae".
den Leon Baudry t 1936 erstmals zum Druck brachte und der
nun von Francis E. Kclley t durchgesehen wurde (505-639).
Während Baudry nur zwei Handschriften benutzte, konnte Kclley
noch drei weitere heranziehen. Keine der fünf Handschriften
schreibt den Text Ockham zu. Da der Text aber inhaltlich mit
Ockhams Schriften übereinstimmt, sich im Stil jedoch von ihnen
unterscheidet, liegt der Schluß nahe, daß diesen tractatus ein
Schüler Ockhams abfaßte, und zwar nach 1 328 und vor 1350.

Der Band enthält auch noch einen Nachtrag, in dem sieben
Handschriften aufgeführt und charakterisiert werden, die Ock-
hamtexte überliefern, aber erst nach dem Druck des jeweiligen
Textes in der vorliegenden Ausgabe entdeckt wurden (28*—31 *).

Die Einleitung erinnert am Schluß an die Franziskaner Bochncr
. Mohan. Buytacrt und Innoccntius A. Dahm. die durch ihre
Forschung diese Ockhamausgabe ermöglicht, ihren Abschluß
aber nicht erlebt haben. Es ist noch der Dank an diejenigen hinzuzufügen
, die außer jenen viel Zeit und Kraft investiert haben,
um der Forschung das philosophische und theologische Werk
eines Mannes zu erschließen, der zu den einflußreichsten des
Spätmittelaltcrs gehörte. Sic haben dadurch wesentlich dazu beigetragen
, daß die Scholastik des Spätmittelaltcrs aus ihrer eigenen
Fragestellung heraus begriffen werden kann und nicht nurals
Verfall einer thomistischen Hochscholastik erscheint.

Leipzig Hclmar Junghans

Philosophie, Religionsphilosophie

Bayer, Oswald: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann
als radikaler Aufklärer. München-Zürich: Piper 1988.
275 S. 8 = Serie Piper. 918. Kart. DM 22,80.

Die erste zusammenfassende Hamann-Interpretation schrieb
Goethe im 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit" (1812).- Die
nächste wurde von Hegel als Großrezension der Rothsehen Hamann
-Ausgabe in den „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik
" vorgelegt (1828). Danach kommt, sieht man von Kierkegaard
und Dilthey einmal ab. Rudolf Ungcrs Monumentalwerk

„Hamann und die Aufklärung" als „Studien zur Vorgeschichte
des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert" (1891 1). Schließlich
hat Josef Nadlcr eine auch werkinterpreticrende Biographie
vorgelegt (1949). Goethe sah Hamann als Koinzidenz-Denker
alles Wirklichen. Hegel verstand ihn als Denker konzentrier-
tester Innerlichkeit, Unger stellte ihn als konsequenten Irratio-
nalistcn dar und Nadlcr wollte ihn zu einem Denker des wurzel-
haft-abcndländischcn „corpus mysticum" machen. Inzwischen
wurde in diesem Jh. eine ausgebreitete Forschung sorgfältige
Einzclintcrprctation betrieben und dabei die Grundbcstimnuui-
gen und -Vollzüge des Hamannschcn Denkens differenziert erkundet
. Die großdimensionierten Zuordnungen sind zurückgetreten
. Hingegen traten drei Momente besonders hervor. Erstens
der existentielle und gedankliche Schlüssclcharakter von Hamanns
Londoner Wende von 1758 für sein gesamtes Denken,
zweitens der spezifische Charakter aller seiner Veröffentlichungen
als „Autorhandlungcn" eines Christen im Umgang mit der
Zeit und drittens die eigentümliche Art seiner Zeitverhaftung. i[1
der er dem Jh. der Aufklärung zugleich solidarisch angehört und
„metakritisch" begegnet.

Im 200.Todesjahr Hamanns 1988 sind eine ganze Reihe von
wichtigen Hamann-Veröffentlichungen erschienen. Oswald Bayers
aus Vorlesungen entstandenes und in die „Serie Piper" aufgenommenes
Hamann-Buch ragt unter ihnen als neue Gesamtinterpretation
hervor. Der Titel „Zeitgenosse im Widerspruch"'
macht deutlich, daß Bayer in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen
Hamann-Forschung von Hamanns kritischer Zeitgenossenschaft
ausgeht und von ihr aus Hamanns denkerische
Gesamtintention zu interpretieren sucht. Goethes Interpretationsansatz
lautete: „Man ahnetc hier einen tiefdenkenden
gründlichen Mann. der. mit der offenbaren Welt und Literatur
genau bekannt, doch noch etwas Geheimes. Uncrforschliehes
gelten ließ und sich darüber auf seine eigene Weise aussprach."'
Bayer liegt auf dieser Gocthcschcn Interpretationslinie, wenn
man einmal hinzunimmt, daß Bayer das. was Hamann nach
Goethe „gelten ließ", theologisch präzisiert und durch Aufschlüsselung
der „metakritischen" Zeitteilhabe Hamanns in einsehbare
gedankliche Handlungsvollzügc überträgt.

Das Buch ist übersichtlich aufgebaut. Eine Einführung meditiert
die Grundthemen von Unabhängigkeit. Kritik und Zeitgenossenschaft
. Ein Einlcitungsbercich macht mit dem biographischen
Ort und der literarischen Form bekannt. Dann wird das
„Urmotiv" der Londoner Wende behandelt: Gott als „Autor "
meiner in Geschichten mit den Dimensionen von Welt- und
Heilsgcschichtc verstrickten Lcbcnsgeschichte und als „Autor"
einer kreatürlieh. christologisch und cschatologisch „anredenden
" Welt, deren Buch vernehmend, glaubend und einstimmend
in Lernen und Leiden gelesen werden will. Hamanns Schriften
sieht Bayer als rhetorisch identifizierbarc „ Vcrhandlungsredcn".
durch die hervorragende Äußerungen der Zeit in ein forensisch-
kritisches Verfahren hincingenommen und auf ihr Verhältnis zu
den Dimensionen des „ Urmotivs" hin befragt werden. Dabei soll
abstrakte Ungebundcnhcit in konkrete Freiheit und formale Geltungsproblematik
„ins sprachlich Wirkliche" (198) und damit in
die theonome und theomorphe Realität von Anrede und Vernehmen
zurückbezogen werden. Das Hauptkorpus des Buches geht
unter diesem Leitgesichtspunkt die wesentlichen Kontroversen
der Hamannschcn Autorschaft, also diejenigen mit Herder.
Friedrich IL, Kant. Lessing und Mendelssohn durch und baut
dabei zugleich so etwas wie eine systematische Gesamtsicht auf":
nacheinander werden der Naturbegriff, die Anthropologie, die
Politik, das Aufklärungsverständnis, die Beziehung von Geschichte
und Vernunft, das Sprachverständnis, das Verhältnis
von Naturrecht und Sozialität, die Sicht der Ehe und der Zeitgedanke
thematisch gemacht und als Dimensionen Hamannschcn
Denkens in analytischem Nachvollzug seiner kritischen Autor-