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Ausgabe:

1991

Spalte:

676-678

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Im Dienst an Volk und Kirche 1991

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 9

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bei Ericksen - in seiner Vermittlerfunktion gesehen. Wurde er
auch getäuscht von den positiv-christlichen Parolen und Versprechungen
des neuen Regimes und versuchte seine Anknüpfungsund
Vermittlungsthcologie eine weiterführend-kritische Aufnahme
„neuer Lebenswerte" in Volkstum. Ehe. Familie, wie sie
die „nationale Erhebung" zu gewährleisten schien, so zollt der
Vf. dem biblisch-reformatorisch orientierten Theologen Althaus
trotz allem Respekt und würdigt die „relativen Verdienste" seiner
sonstigen rein theologischen Arbeit: "In this regard. Althaus
remains onc of the greatest German theologians of this Century."
(290)

Vor Althaus wird "Karl Barth's Response to National Socia-
lism" abgehandelt. Dem thcologicgeschichtlichen Forschungsstandard
entsprechend werden die Phasen von Barths theologischer
Entwicklung aufgezeigt und der auch durch Einführung
christologischcr Analogien mitbedingte Wandel seiner Faschismuskritik
ins Auge gefaßt. Dabei wird auch das Intcrprctations-
problem (Marquardt u.a.) gestreift. Die seit Barths Weggang
nach der Schweiz 1935 beobachtbare sukzessive theologische
Transformation seiner Beurteilung des Nationalsozialismus wird
aufgewiesen. Nicht mehr wie 1933 wird dem NS-Systcmcin Ent-
wicklungsspiclraum eingeräumt („politisches Experiment").
Vielmehr wird - ganz deutlich 1938 in Barths Veröffentlichung
„Die Kirche und die politische Frage von heute" - auch der Charakter
einer pscudoreligiösen Hcilsanstalt am Nationalsozialismus
wahrgenommen. Jetzt ist nach Barth auch der theologisch
begründete Kampf konsequent geboten, während anfangs Barths
und seiner Freunde Widerstand nicht der NS-Staats- und Gesellschaftsordnung
galt, sondern lediglich einer bei ihr Zuflucht suchenden
DC-Thcologie. Anfänge einer auch theologisch kritisch-
aversiven Haltung werden schon 1935 deutlich: politisch hatte
Barth als Sozialdemokrat freilich schon 1933 erhebliche Kritik
parat, die im Kreise Gleichgesinnter auch ausgesprochen wurde.
Die theologische Begründung des Kampfes gegen den Nationalsozialismus
gewann bei Barth indes erst allmählich Konturen.
Sein Evangelium und Gesetz eher harmonisierendes Verständnis
wie auch die ablehnende Haltung gegenüber jedweder „natürlichen
Theologie" boten allerdings schon Basiselemente für die
künftige christologisch begründete Faschismuskritik Barths. Tillich
hat jedenfalls 1940 in einer Besprechung von einem grundlegenden
Wandel in Barths Auffassung vom Wesen des NS-Staatcs
gesprochen. Auch in Barths christologisch apostrophierten Einbeziehung
der Kirche in den Abwehrkampf- wie in seinem Brief
an Professor Hromadka (Prag) deutlich - wurde dies 1938 sichtbar
.

Als Dritter folgt Emanuel Hirsch. Auch hier wird anhand theologischer
Fachliteratur (Schneider-Flume. Schjorring u.a.) ein
theo-politischer Aufweis des Verhältnisses zum Nationalsozialismus
gegeben, der sorgsam an Hirschs einschlägigen Publikationen
abgestützt wird. Weniger pointiert-sensationell als Ericksen.
der sein Hirsch-Kapitel mit „Der Nazi-Theologe" überschrieb
und auch sonst dem theologischen Reflcxionsnivcau Hirschs
nicht voll gerecht werden konnte, versucht Feige. Hirsch in seiner
Abhängigkeit von Fichte und Kierkegaard, seinem an Luther gewonnenen
Zwei-Reiche-Verständnis vorzustellen, das allerdings
in einer Art Existenzsynthese vermittelt wird. Die geschichts-
theologisch fruchtbar gemachten Begriffe wie Kairos. Nomos
und Horos werden in ihrer hermeneutischen Funktion aufgewiesen
. Das positive Verhältnis, das Hirsch zum Dritten Reich gewann
und seine retrospektiv schwer nachzuvollziehcndc Hitlerverehrung
, werden nicht umgangen, sondern anhand der
zeitgenössischen Quellen sichtbar gemacht. Die Auseinandersetzung
Tilliehs mit Hirsch folgt erst am Ende bei der Behandlung
Tillichs selbst, so der Vorwurf Tillichs in den Theologischen Blättern
1934. Hirsch habe den Begriff Kairos verfälscht und seiner
protestantisch-prophetischen Relevanz entkleidet. Das verführe

ihn zu einer kritiklosen Anerkennung der Seinsmächte und lass*
die Kritik des Unbedingten am Bedingten ungebührlich in den
Hintergrund treten oder ganz verschwinden. Doch wird auch bei
Tillich nicht unhinterfragt gelassen, ob sein Syntheseversuch
zwischen dem eher rationalistischen Sozialismus und dem revolutionären
Romantizisus der „Ursprungsmächte", den er in sozialorientierte
Anhängerkreisen der NS-Bewegung dynamisch
verkörpert sah. im Blick auf die Situation Anfang 1933 noch vef
tretbar war. Eindringliche Kritik am Nationalsozialismus hatte
Tillich allerdings schon früher geübt (vgl. seine „Zehn Thesen"
aus dem Jahre 1931). Tillichs Syntheseversuch, den Feige durchaus
als reflexive Orientierung des Religiösen Sozialisten Tillich
versteht, eine erhoffte Kooperation des Proletariats mit den vom
„ nationalen Aufbruch" erfaßten Kreisen zu ermöglichen, erfüllte
sich damals nicht. Tillich mußte 1933 emigrieren, bis Frühjahr
1934 noch auf ein Offenhalten seines Bcamtenstatus als Professor
bedacht. In den USA wandelte sich Tillichs Faschismusvel*
ständnis. Er begriff ihn immer mehr als Totalitarismus und gewann
auch trotz Bedenken in doktrineller Hinsicht Sympathie
für die Bekennende Kirche, in der - wenn auch in hierarchisch"
pricstcrlichcr und dogmatischer Verengung - christliche Substanz
bewahrt werde.

Der Autor, einer mehr liberalen Sichtweisc des modernen Protestantismus
verbunden, ohne freilich die theologische Begriffs"
weit geringzuachten. bekundet sichtlich auch Sympathie für Mar-
tin Rades kritisches Verhältnis zum NS-Systcm. notiert bei
diesem aber ein nicht rechtzeitiges tiefergehendes Verständnis
für die ideologischen Inhalte, so daß vorrangig die Gcwaltprakti-
ken eines autoritären Systems Rades voraufgehende Kritik auslösten
. Doch beeindruckt die Gewissensfreiheit als ethisches Postulat
liberalen Denkens, das zum Zusammenstoß mit dem NS-
Staat und zur nachträglichen Entlassung aus dem Staatsdienst bei
dem schon längst pensionierten Rade führte. Hermann Mulert.
Herausgeber von Rades Christlicher Welt seit 1932. habe im
Interesse der Zeitschrift zu viele Konzessionen gemacht, wenn
auch sein volkskirchliches Engagement gewürdigt wird, weil es
ihm die Effektivität des ethisch verstandenen christlichen Zeugnisses
zu gewährleisten schien. Die Spannweite des theologischkirchlichen
Liberalismus ist indes weiter, als es beide - Rade mit
größerem Verständnis für Karl Barth als Mulert - repräsentieren
können. Der Vf. weist auch daraufhin, daß es Liberale innerhalb
der Bekennenden Kirche gab. Auch solche Feinheiten der zeitgeschichtlichen
Forschung sind sorgsam notiert. Die Pluriformität
des deutschen Protestantismus während des Dritten Reiches
wird überzeugend anschaulich gemacht, nicht idealtypisch, sondern
durchaus kontcxtual vermittelt. Der Aufweis weniger
Aspekte muß hier genügen. Die Lektüre dieses selten ausgew ogefl
konzipierten Buches lohnt die Mühe auch für den deutschen
Leser.

Corrigcnda: S. 137. Anm. 15: Baumgärtcl: S. 373: Kirchen wählen 1933
(nichl 1935): S. 400. Anm. 19: Das Bedingte als Gelaß des Unbedingten'

Leipzig Kurl Meict

Hermle. Siegfried. Lächele, Rainer, u. Albrccht Nuding [Hg.] Im
Dienst an Volk und Kirche. Theologiestudium im Nationalsozialismus
. Erinnerungen. Darstellungen. Dokumente und
Reflexionen zum Tübinger Stift 1930 bis 1950. Stuttgart:
Quell Verlag 1988. 382 S.. 20 Taf. 8 . Kart. DM 32.-.

Zu Beginn des Tübinger Sommersemesters 1933 hat Hanns
Rücken die Uberzeugung vertreten. Theologen hätten es besonders
leicht, „ von den Geschehnissen der letzten Wochen den Weg
in den Hörsaal zurückzufinden und dann wieder den Weg aus
dem Hörsaal hinaus zu der lebendigen und fruchtbaren Teilnahme
an der Arbeit des völkischen Wiederaufbaus" (H. Rük-