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Ausgabe:

1991

Spalte:

596-598

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Guthrie, Donald

Titel/Untertitel:

New Testament introduction 1991

Rezensent:

Roloff, Jürgen

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595

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 8

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Gott als Vater und dem Überich als internalisiertem Vater) sowie
einer starken Reaktionsbildung gegen die unterdrückten Impulse
gelöst. Durch die neue Identifikation mit dem Sohn, der sich
gegen den Vater durchsetzt, habe sein Ich gegenüber dem Überich
U nabhängigkeit erlangen können. Er konnte nun 1. seine verdrängten
sexuellen Impulse offener akzeptieren, 2. negative Gefühle
gegenüber Eltern (und Elternbildern) zulassen und 3. die in
der Verfolgung von Christen nach außen gewandte Aggression als
"Todessehnsucht" gegen sich selbst richten. All diese Tendenzen
seien jedoch auch beim christlichen Paulus nicht voll zum Zuge
gekommen und daher zum Teil unbewußt geblieben. Trotz seiner
Bekehrung sei Paulus seiner alten psychischen Prägung verhaftet
geblieben. Bei dieser Erklärung ist C. eine Schwierigkeit bewußt:
Nach psychoanalytischer Theorie ist der Ödipuskomplex universal
. Bei Paulus soll mit ihm jedoch eine individuelle Entwicklung
gedeutet werden. C. nimmt daher mehrfach an, daß bestimmte
Vorgänge des ödipalen Dramas bei Paulus besonders stark ausgeprägt
waren.

Die Stärke des Buches ist sein argumentatives, rationales Vorgehen
. Auch der Leser, der den "Ödipuskomplex" weniger für
ein analytisches Instrument psychologischer Exegese hält, sondern
für einen ihrer sehr ergiebigen Gegenstände, kann es mit
großem Gewinn lesen. Denn C. unterscheidet deutlich zwischen
Textbefunden, naheliegenden Schlußfolgerungen und theoretischen
Deutungen, die an spezifische Prämissen gebunden sind.
In diesem umsichtigen Vorgehen sehe ich vor allem eine Anwendung
der von mir entworfenen Methodologie. An einem Punkt
jedoch weicht sie - entgegen grundsätzlichen Äußerungen (7) -
von ihr ab: Eine psychologische Exegese müßte m.E. offen für
verschiedene theoretische Ansätze in der Psychologie sein. C.
entscheidet sich für einen einzigen Ansatz. Aber auch bei diesem
Ansatz hält sie sich an dessen klassische (um nicht zu sagen "orthodoxe
") Ausprägung. Die Entwicklung psychoanalytischer
Theorie und Praxis bis heute schlägt sich bei ihr kaum nieder.
Das sei mit Hilfe von zwei grundsätzlichen Überlegungen deutlich
gemacht:

C. betrachtet religiöse Überzeugungen oft als Kompromißbildung
zwischen verdrängten Impulsen und Bewußtsein: Paulus
konnte z. B. sein Konkurrenzmotiv nur als Konkurrenzverhalten
Gottes (das Gott durch die Person des Apostels verwirklicht) in
seinem Bewußtsein zulassen. Seit der "hermeneutischen Wende"
in der Psychoanalyse rechnet man aber sehr viel mehr damit, daß
religiöse Symbolik eine aktive Form der Bearbeitung menschlicher
Antriebe darstellt. Paulus bearbeitet in seinen Briefen sein
Dominanz- und Konkurrenzstreben m. E. in sehr bewußter Form
mit Hilfe christologischer Symbolik. Die Sublimierung von Sexualität
geschieht bei ihm mit Hilfe des Bildes vom Leib Christi
sehr bewußt. Die Verwandlung von Todesgrauen in Todesbejahung
durch religiöse Symbolik ist ebenso unverkennbar. Religiöse
Symbolik verbirgt nicht das Unbewußte, sondern verleiht
ihm eine Sprache.

Eine zweite Entwicklung in der durch die Psychoanalyse inspirierten
therapeutischen Praxis (z. B. in der Gestalttherapie) ist
die "Wende zur Gegenwart". Entscheidend ist nicht die Vorgeschichte
psychischer Prozesse, sondern ihre gegenwärtige Dynamik
. Exegetisch bedeutet das einen großen Gewinn: Anstatt die
uns nur in selten Fällen zugängliche Vorgeschichte des Paulus zu
erhellen, können wir uns auf die in den vorliegenden Texten
sichtbar werdende psychische Dynamik konzentrieren. Hier beobachten
wir (in Rom 7) zweifellos so etwas wie ein Drama von
Überich, Ich und Es. Die Entthronung und Verwandlung des
Überich (oder wie immer man die Agenturen kultureller Normsysteme
nennt) geht in den Texten vor unseren "Augen" vor sich.
Sie hat zweifellos eine Vorgeschichte (was in gegenwärtig zu beobachtenden
Rückgriffen auf die Vergangenheit deutlich wird).
Entscheidend aber ist die "Gegenwart" des Textes.

Die Beobachtungen und Überlegungen von T. Callan lassen
sich m. E. leicht so umformulieren, daß sie auch dann akzeptabel
sind, wenn man der klassischen Psychoanalyse distanziert gegen-
übersteht. Ihre Entscheidung für diesen einen Ansatz ist zu respektieren
. Immerhin handelt es sich um eine der großen Theorien
zur Selbsterforschung des Menschen. Gemessen an manchen
diffusen Versuchen psychologischer Exegese ist dies Buch von
wohltuender Klarheit, Nüchternheit und gedanklicher Diszipli"
- zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Verbindung von Psychologie
und Exegese.

Heidelberg Gerd Theißen

Guthrie, Donald: New Testament Introduction. 4th ed. Leicestef:
Apollos; Downers Grove, HL: Intervarsity Press 1990. 1161 S.

gr. 8°.

Seit mehreren Jahrzehnten ist eine wechselvolle Diskussion
über Gegenstand, Methodik und Ziel der neutestamentlichen
Einleitungswissenschaft im Gange, die sich in höchst unterschiedlich
angelegten Darstellungen niedergeschlagen hat und
deren Ende noch keineswegs in Sicht sein dürfte. Hatte es eine
Zeitlang so ausgesehen, als würde die klassische Einleitungswissenschaft
, die sich auf die Fragen nach Herkunft. Entstehungsverhältnissen
und Verfasserschaft der kanonischen Schriften
konzentrierte, abgelöst werden durch eine breiter angelegte Literaturgeschichte
des Urchristentums, die sich, ohne Berücksichtigung
der dogmatischen Vorgabe des Kanons und der traditionellen
kirchlichen Vorstellungen über die Verfasserschaft, ganz der
Darstellung des historischen Prozesses frühchristlicher Litera-
turwerdung widmen würde (z. B. M. Dibelius, Geschichte der urchristlichen
Literatur, 1926; P. Vielhauer, 1975; H. Köster.
1980), so scheint gegenwärtig eine Neubewertung des Kanons als
historischer und theologischer Zielpunkt eines in den neutestamentlichen
Schriften dokumentierten Entwicklungsprozesses
stärker in das Blickfeld zu kommen (so einerseits B. Childs.
1984; andererseits aber auch E. Schweizer, 1989).

Das vielleicht augenfälligste Merkmal des Lehrbuchs von D-
Guthrie ist seine völlige Unberührtheit von diesen Diskussionen.
Die in vielfacher Hinsicht erweiterte und ergänzte Neuauflage
dieses erstmals 1961-1965 (damals in drei Bänden) erschienenen
Werkes ist auch darin konservativ, daß sie sich in unangefochtener
Selbstverständlichkeit als eine Einleitung klassischen Stils
versteht. In der kanonischen Reihenfolge werden die neutestamentlichen
Schriften abgehandelt, wobei die Fragen nach Entstehungsverhältnissen
, Verfasserschaft, altkirchlicher Bezeugung
und Datierung im Mittelpunkt stehen. Eine knappe Inhaltsübersicht
beschließt das jeweilige Kapitel.

Dieser Konservatismus der Darstellungsweise hängt unmittelbar
mit der streng traditionalistischen Position des Vf.s zusammen
. Anspruch und Legitimation der ntl. Schriften hängen für
ihn letztlich daran, daß sie als historisch zuverlässige Dokumentationen
der Geschichte und Verkündigung Jesu bzw. des Zeugnisses
der Apostel identifiziert werden können. Die Möglichkeit,
die Entstehungsprozesse ntl. Schriften als Reflexe geschichtlicher
Erfahrungen und von diesen angestoßener theologischer Entwicklungsprozesse
zu sehen, ist für ihn weitgehend uninteressant
, und er begegnet derartigen Forschungstendenzen mit deutlicher
Kritik. So gewinnt dieses umfangreiche Werk letztlich den
Charakter einer gelehrten Apologie der traditionellen Verfasser-
zuschreibungen. In keinem einzigen Fall kann Guthrie sich zu
einer Infragestellung durchringen, nicht einmal beim 2Petr. dessen
petrinische Autorschaft er unbeirrt von der überwältigenden
Fülle der Gegenargumente verteidigt. Lediglich beim Hebr rückt
er von der altkirchlichen Zuschreibung an Paulus ab. freilich