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Ausgabe:

1991

Spalte:

593-596

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Callan, Terrance

Titel/Untertitel:

Psychological perspectives on the life of Paul 1991

Rezensent:

Theißen, Gerd

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 8

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Neues Testament tion auf dem Weg zu Christus positiv gewertet. Die Eltern-Kind-

Metaphorik wendet er in ungewöhnlicher Weise an: Der Ver-

Caiian -r /• r- gleich der Kindheit mit dem Sklavenstatus (Gal 4. lf) fällt ebenso

An Iner anCC: P^0'0^^1 Perspectives on the Life of Paul. aus dem Rahmen wje dje persönliche Identifikation des

nn Apphcation of the Methodology of Gerd Theissen. Lewi- „ . ... u °. , r . . ,.,

ston-Queenston-Lampeter: Mellen 1990. VIII, 161 S. 8' = Paulus mit einer „Mutter , die die Gemeinde gezeugt hat.

Studies in the Bible and Early Christianity, 22. Lw. $ 49.95. wie ge'31^ C- nun von solchen (immer Plausibel dargestellten
) Textbefunden zu einer psychologischen Deutung des hinter

Psychologische Exegese ist noch immer ein riskantes Unter- den Texten nur indirekt erfaßbaren Paulus? Wie kann sie auf des-

"ehrnen, ihre Methodik umstritten, ihre akademische Reputa- sen Unbewußtes zurückschließen, obwohl Paulus weder Träume

hon ungesichert. Schon deshalb ist das Buch der amerikanischen noch Assoziationen liefern kann, die bei gegenwärtig lebenden

putestamentlerin T. Callan über psychologische Aspekte im Menschen gewiß Zugänge zum Unbewußten bilden können?

•-eben des Paulus zu begrüßen. Es folgt einer überlegten Metho- C. legt ihre psychologische Deutung in drei Schritten vor: Aus-

do'ogie. entspricht den Standards historisch-kritischer Exegese gangspunkt sind die oben skizzierten immanenten Widersprüche

Und führt zu relevanten Ergebnissen. in den paulinischen Aussagen. Die jeweils dominanten Aussagen

D'e Einleitung knüpft an die methodologische Diskussion werden von C. als bewußtseinsnahe Aussagen gewertet, die ihnen
Psychohistorischer Biographik an, bei der sich drei ernsthafte widersprechenden Aussagen dagegen als bewußtseinsferne Aus-
Probleme herausgestellt haben: 1. Die Widersprüche zwischen sagen - ein legitimes Verfahren, das oft sogar in bestechender
konkurrierenden psychologischen Theorien, 2. die Gefahr ana- Weise durchgeführt wird. Bewußt sind dem Paulus danach: Die
ehronistischer Rückprojektion modernen psychischen Erlebens Ablehnung von Konkurrenzverhalten, die Abwertung von Sexua-
'n d'e Vergangenheit und 3. die Schwierigkeiten, ein abwesendes lität, die positive Identifikation mit Elternbildern, die feindselige
Su°jekt zu analysieren. C. sieht in der von mir in „Psychologi- Haltung gegenüber dem Tod. Unbewußt sind dagegen diejeweils
Sche Aspekte paulinischer Theologie" 1983 entworfenen Metho- entgegengesetzten Tendenzen, die oft nur in verdeckter Form ins
dologie einen gangbaren Weg, um diese Schwierigkeiten zu über- Bewußtsein treten dürfen: Nicht etwa Paulus hat mehr als alle an-
*'nden. Aber ihr Ansatz geht über die dort skizzierte Methodik deren Apostel gearbeitet, sondern Gottes Gnade an ihm. Das
hinaus: Während ich aus der dritten Schwierigkeit die Konse- Konkurrenzverhalten, das Paulus bei sich bewußt ablehnt, kann
quenz gezogen habe, daß psychologische Exegese zunächst Texte er zulassen, wenn er es Gott zuschreiben kann.
Und Uberzeugungen analysieren sollte - und erst in zweiter Hin- In einem zweiten Schritt wertet C. das Nebeneinander von beucht
die hinter den Texten sichtbar werdenden Personen - ist T. wußten und bewußtseinsfernen Aussagen als Ausdruck einer Enthalten
zuversichtlich, hinter den paulinischen Texten auch das wicklung: In ihm wirkt der radikale Wandel nach, den Paulus
Leben des Paulus psychologisch erhellen zu können. Wie wird sie durch seine Bekehrung erlebt hat. Diese Bekehrung wird nicht
dabei mit den oben genannten Schwierigkeiten fertig? psychologisch erklärt, aber psychologisch als „Übernahme einer

°as Problem widersprüchlicher psychologischer Ansätze löst neuen Identität" beschrieben (im Sinne von E. Erikson, der das
Sle auf denkbar einfache Weise: Sie ist zwar offen für verschie- Jugendstadium als ein Experimentieren mit Identitäten ver-
der>e psychologische Theorien, entscheidet sich aber für einen stand). Vor seiner Bekehrung war Paulus von einem Konkurrenz-
Ps>choanalytischen Ansatz. Die mit Hilfe des Ödipusmythos be- motiv bestimmt. Durch seine Bekehrung wurde er von ihm betriebene
Dramatik zwischen Überich. Ich und Es wird so zum freit: Alles, dessen er sich einst rühmte, ist ihm nichts mehr wert.
Schlüssel für die Psychologie des Paulus. Aber über die Bekehrung hinweg blieb die Struktur seiner Person

Der Gefahr anachronistischer Rückprojektionen wirkt sie da- dieselbe: Unbewußt wirkte das alte Konkurrenzmotiv in ihm

durch entgegen, daß sie die historisch-kritischen Befunde ernst nach. Es zeigt sich im Gebrauch athletischer Wettkampfbilder, in

nirnmt. Dabei geht sie in zwei methodischen Schritten vor: der Angst vor Versagen, in der Aufforderung zum Nachahmen

Zunächst einmal beschreibt sie in überzeugender Weise den seines Beispiels, in der Verachtung anderer und im „Eifern" des

Textbefund bei Paulus. Sie untersucht vier Themen: Konkur- bekehrten Apostels für seine Sache.

rer"z. Sexualität. Eltern-Kind-Beziehung, Tod. Bei allen Themen Der Abschnitt über "Competition and Boasting" (16-50) ist

findet sie durchgehend eine tiefe Ambivalenz bei Paulus: Er ver- m. E. der stärkste Teil des Buches. Er wurde in Studia Theologica

w'rft seit seiner Bekehrung Konkurrenz, die den anderen herab- 40(1986) 137-156 und im Journal of ReligiousStudies 13(1986)

Setzt. aber faktisch sind seine Briefe voll von Konkurrenzaussa- 25-51 schon vorher veröffentlicht. Er überzeugt deswegen, weil

gen: Gegen seine bewußte Absicht rühmt er sich gegenüber wir beim Thema "Konkurrenzverhalten" über autobiographi-

seinen Konkurrenten. Seine Aussagen zu Sexualität und Tod sind sche Zeugnisse des Paulus zu seiner vorchristlichen Zeit verfü-

^orwiegend negativ. Aber daneben gibt es wenige positive Aus- gen. Auch wenn diese Zeugnisse, wie C. betont, die retrospektive

sagen. Dagegen sind die Bilder von Eltern und Kindern vorwie- Sicht des Paulus enthalten, so sind sie doch in jedem Fall wert-

8end positiv. Nur manchmal schlagen negative Konnotationen voller als Rückschlüsse auf das Leben des vorchristlichen Paulus

durch. allein aufgrund psychologischer Theorien. Eben deswegen sind

Der zweite historisch-kritische Schritt besteht darin, durch die Rückschlüsse auf das vorchristliche Leben bei den anderen

Vergleich mit den Aussagen der jüdischen und paganen Umwelt Themen nicht ganz so überzeugend. C. beruft sich darauf, daß die

das Besondere der paulinischen Aussagen herauszuarbeiten, um positiven Aspekte von Sexualität und Tod eng mit spezifisch

kulturelle Konvention von jenen Eigentümlichkeiten abgrenzen christlichen Vorstellungen (der Leib-Christi-Vorstellung und der

*u können, die aus dem Leben des Paulus heraus psychologisch Auferstehung Jesu) verbunden sind, also vorchristlich noch gar

gedeutet werden können. So prägt Paulus den Begriff des Sich- nicht vorhanden sein können. Bei der Eltern-Kind-Thematik

Pühmens um: Das Rühmen „im Herrn", das alttestamentlicher fehlt m.E. ein entsprechendes Argument, das die positive Identi-

'■"adition entspricht, wird zu einem paradoxen Sich-Rühmen der fikation mit den Eltern plausibel der vorchristlichen Zeit zuord-

^chwachheit. Durch Aufnahme spezifisch christlicher Bilder ver- net.

bindet Paulus mit Sexualität und Tod positive Aussagen: Indem Über diese "entwicklungspsychologische" Zuordnung von beer
die Einheit im Leibe Christi mit der sexuellen unio paralleli- wußtseinsnahen und bewußtseinsfernen Aussagen tritt nun dritten
, deutet er die Möglichkeit positiver Wertschätzung der Se- tens eine theoretische Erklärung mit Hilfe des Ödipuskomplexes:
Xualität an. Der Tod. der für ihn eigentlich ein Feind und Folge Paulus habe den Konflikt zwischen Norm und (inzestuöser) Be-
der Sünde ist, wird als Teilhabe am Sterben Christi und als Sta- gierde durch Identifikation mit der normgebenden Instanz (mit