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Ausgabe:

1991

Spalte:

535-538

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Baumann-Hölzle, Ruth

Titel/Untertitel:

Human-Gentechnologie und moderne Gesellschaft 1991

Rezensent:

Kreß, Hartmut

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 7

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im Erfahrungsbereich der Außenwelt den Erscheinungen zugrunde
liegt" (dem Ding an sich), „hält Kant seine Metaphysik
der Erkenntnis auch an der Objektseite offen." (38) Ganz abgesehen
davon, daß der Vf. Kants ethischen Gotteszugang dabei ganz
vergißt, zeigt sich seine Kantinterpretation schon im theoretischen
Bereich zumindest als voreilig.

Positiv bleibt herauszuheben: Das Buch verfällt keiner billigen
theologischen Anpassung, ohne die Augen vor der modernen
Wirklichkeit zu verschließen; charaktervoll will es die christlichen
Inhalte in sie hineindenken. Dabei verfällt es gerade nicht
der in der evangelischen Theologie heute weithin üblichen Metaphysik
- und damit Philosophieablehnung. Damit stellt es an
eine im Immancntistisch-Ethischen aufgehende Theologie recht
bedenkenswerte Fragen.

Marburg Günther Keil

Systematische Theologie: Ethik

Baumann-Hölzle, Ruth: Human-Gentechnologie und moderne
Gesellschaft. Zürich: TVZ 1990. XX, 493 S. 8 = Gesellschaft
und Ethik. 12.

Die Thematik des vorliegenden Buches verdient an sich hohes
Interesse, da das Buch die im deutschen Sprachbereich nur begrenzt
wahrgenommene US-amerikanische Diskussion zur Humangenetik
aufzuarbeiten sowie v. a. auch soziale bzw. sozialpolitische
Aspekte der Gentechnik in den Blick zu nehmen
verspricht. In der Tat steht die Sozialethik vor der Aufgabe, mögliche
soziale Konsequenzen der Humangenetik, etwa im Verhältnis
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, oder die Gefahren
eines sozialen Drucks zugunsten genetischer Tests an
Erwachsenen sowie an un- oder neugeborenem Leben, oder die
sich bereits abzeichnenden Tendenzen eines schleichenden eugenischen
Wertewandels kritisch zu diskutieren. Dies erscheint um
so dringlicher, als genetische Testverfahren auch für Erwachsene,
einschließlich Trägertests für später ausbrechende, jedoch unbe-
handelbare Krankheiten, bald zunehmend zur Verfügung stehen
werden.

Ungeachtet dessen, daß die Thematik dringlich und sozialethisch
fundamental ist. kann das vorgelegte, z.T. sehr redundante
Buch nicht überzeugen, selbst wenn einer Reihe kritischer
Intentionen der Vfn. an sich zuzustimmen ist. Nur drei Einwände
seien genannt: l. Von zahlreichen sehr ungenauen Formulierungen
und von störenden Verschreibungen sei abgesehen. Insgesamt
bleibt die Darstellung der amerikanischen Debatte aber
wenig hilfreich, ja suggeriert höchst problematische, nicht nachprüfbare
(Vor-)Urteile, wenn Belegangaben fehlen oder Aussagen
unpräzise bleiben. Ohne Beleg, nur unter Hinweis auf „(e)in Papier
, ... welches leider nicht datiert ist" das jedoch „die katholische
Position genau(!)" umreiße, wird behauptet, die katholische
Kirche erlaube Kcimbahn(!)veränderungen (362). Überhaupt
gelte „grundsätzlich", daß der Papst selbst der Gentherapie
seine „Unterstützung" erklärt habe (361). - Ebenso unbefriedigend
ist der Hinweis der Vfn. auf den Theologen J. Fletcher
(2670. dessen höchst problematische These zur Anbindung des
Personstatus an Vernunftfunktionen zwar kritisch erwähnt wird,
ohne daß jedoch eine breitere Darstellung seiner Position und argumentative
Auseinandersetzung erfolgt wäre. 2. Wenn die Vfn.
auf Äußerungen von Naturwissenschaftlern eingeht (262ff). die
ihrer positiv-eugenischen Phantasie freien Laufließen (v.a. im
bekannten CIBA-Symposium „Man and His Future"), ist daran
aufzugreifen, daß die Verleitung zu eugenischen Utopien von der
theologischen Anthropologie und Ethik ideologiekritisch aufzuarbeiten
ist. Aber Pauschalurteile sind deplaziert, die z.B. besagen
: „die heutige wissenschaftliche Gemeinschaft hat sich nicht
öffentlich gegen die positiv eugenischen Gedanken, welche im
Zusammenhang mit der Gentechnologie bereits ausgesprochen
worden sind, gestellt" (440). Der Biochemiker E. Chargaff, dessen
scharfe Kritik an der „genetischen Bastelsucht" über Amerika
hinaus bekannt wurde, ist noch nicht einmal im Literaturverzeichnis
erwähnt! Dem Nationalsozialismus zu vergleichende
Intentionen werden der Gentechnologie äußerst pauschal zugesprochen
(439ff). Fraglos sollten, gerade aus deutscher Sicht, die
historischen Erfahrungen mit der verwerflichen eugenischen
Ideologie des NS-Staates Bestandteil der kritischen Auseinandersetzung
über eugenische Gefahren der Gentechnik bleiben. Jedoch
darf nicht übersehen werden, daß es in der genetischen Beratung
oder bei der - z. Z. erst experimentellen - somatischen
Gentherapie um Linderung schweren oder schwersten individuer
len Leides, nicht um die Verbesserung des Genpools geht. Genetische
Zwangs- und Reihenuntersuchungen, die in den USA durchaus
durchgeführt wurden (255f; 301), sind scharf zu kritisieren,
da sie -u.a.!- einen Einbruch in die innerste Personsphäre darstellen
, Diskriminierungen auslösen und ggf. auch unbegründete
Ängste bei Betroffenen bewirken können. Das Buch selbst belegt-
daß Einwände auch in den USA erhoben wurden (278ff). Die
pauschale Gleichsetzung mit der NS-Ideologie hingegen vermag
die Diskussion nicht zu versachlichen. 3. Es überrascht, daß - bei
allen berechtigten Warnungen vor eugenischen Versuchungen in
der Gesellschaft bis hin zur Geschlechtswahl, u. U. dem Trend
zum „perfekten Baby"(350), Embryonenhandel(3430u.a.-das
Problem menschlichen Leides und das Motiv der Hilfe für
schwerste Erkrankungen in dem Buch kaum angesprochen und
weder ethisch, auch nicht standesethisch (Arztethos!), noch theologisch
hinreichend bedacht werden (marginal z. B. 350 Z. 1). Es
wäre aber abzuwägen, inwieweit, und an welchen Kriterien bemessen
, durch gentechnische Methoden Leid gelindert werden
kann. Die Vfn. selbst rechtfertigt die (somatische) Gentherapie
aber nicht um der Linderung von Schmerz und schwerster
Krankheit willen, sondern allgemein damit, daß „genetische Abweichungen
" - welche?! - den Menschen in seiner „Beziehungsfähigkeit
" einschränken könnten: „Ein Mensch leidet an einer
genetischen Abweichung, die ihn in seinen Beziehungen behindert
, sei es, weil er körperlich nicht so mobil ist, sei es, weil sein
psychischer Zustand Beziehungen stört" - aufgrund dessen gelte:
„Damit wird der therapeutische Grund [näml. zur gentechnischen
Behandlung] legitimiert" (4460- Diese gefährlich unscharfe
Kriteriologie der „Beziehung" wird dem Leid genetisch
bedingter Erbkrankheiten nicht gerecht, erfaßt aber auch nicht
die derzeit aufbrechende Problematik einer „ Futurisierung" von
Krankheit. Denn es darf ebenfalls nicht übersehen werden, daß
genetische Informationen für einzelne Betroffene hohe Belastungen
erzeugen können, etwa die Information über eine in späteren
Lebensjahrzehnten auftretende unbehandelbare Krankheit wie
Chorea Huntington. Die Vfn. hat das komplexe ärztlich-ethische
und psychologische Problem des Umgangs mit hiervon Betroffenen
im Resümee lapidar in einem Satz abgehandelt: „Trotz des
Leides, welches solches Wissen hervorrufen kann, ist grundsätzlich
die Offenheit zu befürworten" (446: vgl. 452). Die Problematik
ärztlicher Informationen von solch großer prospektiver
Reichweite ist gerade in den USA auch psychologisch, im Blick
auf den konkreten Umgang mit Betroffenen, diskutiert worden
(z.B.: S. Kessler [ed.], Genetic Counseling. Psychological Di"
mensions, 1979 Academic Press, New York; dt. 1984: Psychol-
Aspekte der genet. Beratung). Diese Frage hätte eine differenzierte
Stellungnahme erfordert.

Wie ist das Buch im einzelnen aufgebaut?

Ein 1. Teil (1-47) beschreibt Techniken. Test- und Diagnosemöglichkeiten
der Gentechnik; Teil 2 (48-96) orientiert über die amerikanische Sicherheitsdebatte
seit der Asilomarkonfercnz (1973/75). Der 3. Teil (97-