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Ausgabe:

1991

Spalte:

528-529

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pernet, Martin

Titel/Untertitel:

Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche 1991

Rezensent:

Seils, Martin

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 7

528

will: eine (nichtdualistische) „Neukonzeption der religiösen Vorstellungen
" (115), eine veränderte Religion selbst (112) usw.;
oder wie es im Titel des Buches reichlich pathetisch „Auf dem
Weg zur Religion des Lebens" heißt.

Schon in jenem 3. Kap. ansatzweise und erst recht im Fortgang
der Untersuchung ist kaum noch vom Christentum die Rede als
vielmehr von „Religion". Kritiklos übernimmt der Vf. die in
ihrer Verallgemeinerung einseitige marxistische Auffassung von
Religion als ideologischem Überbauphänomen. Ihm geht es allein
um die gesellschaftliche Funktion von Religion in den Konstellationen
von Herrschaft, Unterdrückung und Befreiung. Natürlich
trägt dies dem nicht nur in Lateinamerika notwendigen
Prozeß Rechnung, den in verschiedener Weise kritikwürdigen
Mißbrauch von Religion bewußt zu machen. Ob aber diese überhaupt
mit dem christlichen Glauben übereinstimme, fragt der
Vf. in seiner funktionalen Betrachtungsweise nicht mehr, weder
gegenüber den verschiedenen Formen von Religiosität und
Kirchlichkeit in Nicaragua noch gegenüber dem marxistischen
Religionsverständnis, sosehr er nebenher festhält (347, Anm.
256). daß er „als Religion faktisch das Christentum" betrachtet.

Der Vf. möchte hier im II. Teil des Buches den Nachweis führen
, daß es im Religionsverständnis des späteren Marx (und ähnlich
bei Engels) Ansätze gibt, die über die rein religionskritische
Frühphase inhaltlich hinaus- und „entschieden weiterführen"
(200) und anders als im europäischen Raum in Lateinamerika
aufmerksam aufgenommen (Otto Maduro, Antonio Gramsei)
und fruchtbringend ausgebaut (Franz Hinkelammert) werden.
Solche „hegemonietheoretische Fassung der Religionstheorie"
(260) reflektiert adäquat die revolutionäre Spiritualität und legt
zugleich mit den Mitteln wissenschaftlicher Analyse die „innere
Transzendentalität der Realität" (265) frei. Am Bewußtsein der
Transzendenz hat auch eine atheistische Weltanschauung Anteil
- im Wissen um ein „wirkliches Müssen", wie der Vf. an einem
Marx-Zitat nachzuweisen sucht (MEW 3, 540). Für den religiösen
Menschen dagegen schlägt es sich nieder im Bild von Gott,
„der die vollständige Aufhebung aller Mängel und Widersprüche
gegen alle menschlichen Möglichkeiten garantiert" (288). Dieses
Gottesbild schafft zwar der Mensch selbst, aber eben nicht in
fälschlicher Widerspiegelung seines Wesens in einer in falscher
Klassenbindung verführten Religiosität. Es ist vielmehr - wie das
Beispiel von Nicaragua zeigt - das Bild von einem Gott, der den
Menschen in dem widerspiegelt, was er wirklich ist (289). Eine
nebulöse Formulierung vom „religiösen Wahrheitsurteil, daß
dieser Gott ...tatsächlich existiert" (290), versucht zu kaschieren
, daß in diesem Buch „Gott" nicht mehr ist als die Produktion
revolutionärer Wünsche.

So interessant zwar der Vf. einige Äußerungen von Marx zur
Religion (etwa in dessen Analyse des Kapitalfetischs oder in der
schon erwähnten Stelle) interpretiert, teilt er doch damit die
Unart des leninistisch rezipierenden Schulmarxismus, sekundäre
und gar marginale Bemerkungen von Karl Marx zu Theorien
zu systematisieren. In orthodox-marxistischer Manier wird
auch durch das ganze Buch hindurch der Marxismus fraglos als
die wissenschaftliche Gesellschaftsanalyse (gar als „ wissenschaftliche
Weltanschauung" 291) gehandhabt. Über diesen Marxismus
ist die Entwicklung in Osteuropa wie in Nicaragua, soweit er
dort in dieser Form wirklich eine Rolle gespielt hat, hinweggegangen
.

Sehr hilfreich sind die umfangreichen Verzeichnisse am Ende:
zur Literatur, bes. über nicaraguanische Zeitschriften, sowie über
Abkürzungen, die für den europäischen Leser nur wenig oder gar
nicht bekannt sind, über spanische Ausdrücke, auch über die interviewten
Personen sowie über die erwähnten geographischen
Namen zusammen mit einer Karte von Nicaragua.

Leipzig Matthias Pctzoldt

Pernet, Martin: Das Christentum im Leben des jungen Friedrich
Nietzsche. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989. 164 S. 8 =
Studien zur Sozialwissenschaft, 79. Kart. DM 29,-.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Friedrich Nietzsches
christlich-religiöser Jugendbeheimatung und seinem späteren
Antichristentum und dessen antithetischer Prägung durch Nietzsches
Frühbeeinflussung ist immer wieder gestellt worden. Sic
läßt sich nur beantworten, wenn Umfang und Charakter de'
christlichen Frühprägung Nietzsches differenziert bestimmt werden
können. In dieser Hinsicht bestand ein Forschungsdesiderat
Der leider zu früh verstorbene Reiner Bohley hatte von Naumburg
aus begonnen, diesem Desiderat abzuhelfen. Nunmehr leg'
ein dazu ursprünglich von Max Geiger angeregter schweizer Pfarrer
eine Arbeit vor, die beansprucht, die „religiöse Sozialisation"
des „jungen und jugendlichen Friedrich Nietzsche" (9) aufgrund
aller verfügbaren Quellen erforscht zu haben. Er kommt zu dem
Ergebnis, daß neben einer frühen Begegnung Nietzsches mit verschiedenartigen
theologischen und frömmigkeitsmäßigen Strömungen
in der Jugend Nietzsches „die starken pietistisch- er-
wecklichen Einflüsse ... ausgesprochen dominant gewesen sind'
(105).

Die Arbeit Pernets untersucht Familien- und Periodeneinflußbereiche
auf Nietzsches christliche Jugendprägung von der
Großeltern über die Eltern und die Tanten und von der Naum
burger Schulzeit über die Pfortenser Ausbildungszeit bis in di'
Bonner Studienzeit 1864/65 hinein. Es werden, z. T. in Anschlut
an Bohley, in sehr ausführlicher Weise Quellen herangezogen unc
weitgehend neu erschlossen. Das betrifft neben den Weimarei
Akten zur Nietzsche-Familie besonders Akten aus dem Magde
burger Konsistorialarchiv sowie aus den damaligen DDR-Staats
archi ven in Magdeburg und Merseburg. Sie erlauben es insbeson
dere, die christlich-religiöse Grundeinstellung derjenigen Per
sonen näher zu bestimmen, die möglicherweise auf Nietzsche?
religiöse Jugendprägung Einfluß ausgeübt haben. Pernet sieht
wie gesagt, ein pietistisch-erweckliches Element als dominant an
Darüber hinaus meint er nachweisen zu können, daß Nietzscht
bis in seine Bonner Studienzeit hinein „bestrebt gewesen" sei
„seinen christlichen Glauben existentiell zu leben" (103).

Die Quellenarbeit ist hoch zu begrüßen. Sie ergänzt die Kennt
nis von Nietzsches Jugendbiographie in wünschenswerter Weis<
und erlaubt es auch, die Angaben von Nietzsches Schwester Eli
sabeth vielfach von unabhängigen Instanzen aus zu beurteilen
Man sollte und könnte aber wohl noch stärker versuchen, da:
Naumburger religiös-kirchliche Gesamtkolorit zwischen 185(
und 1864 zu erfassen. Dafür ständen z. B. im Naumburger Stadt
archiv noch reichlich Quellen zur Verfügung.

Eine andere Frage ist die nach den Kriterien, die Pernet ver
wendet, und den Schlüssen, die er zieht. Für die „Grundstim
mung" pietistisch-erwecklicher Frömmigkeit hält Pernet „da:
Empfinden großer Geborgenheit", den „Glauben", in eine
„immer von Gott regierten ... Welt zu leben" und das Vertrauen
„im Gebet auch immer wieder Hilfe und Heilung von Gott erbit
ten" zu können, dabei auch der „Erlösung wie auch der Verhei
ßung der Vergebung, die Jesus Christus den Seinen verheiße'
hat, gewiß zu werden" (105). Auch wenn dann noch „die Besin
nung auf den Zusammenhang von Sünde und Gnade" und „du
Bibel" (ebd.) genannt werden, so muß man doch sagen, daß die5
auf die mitteldeutschen kirchlich-bürgerlichen Kreise in de
Mitte des 19. Jh.s bezogen, eher Grundzüge einer durchschnitt
lich-christlichen Frömmigkeit als Charakteristika pietistisch
erwecklicher Grundbestimmtheit sind. Die Kriterien sind z"
weit. Sie erlauben keine genaueren Zuordnungen. Schwierige
noch ist es mit den Schlüssen. Aus der tätigen Beteiligung de
Freundeshäuser Pinder und Krug, eigentlich ja nur des Hause
Pinder, in Naumburg am Gustav-Adolf-Verein und an Missions