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Ausgabe:

1991

Spalte:

512-514

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wolff, Christian

Titel/Untertitel:

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 1991

Rezensent:

Lohse, Eduard

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511

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 7

512

werden (278). Die johanneische Sondersprache steht dabei im
Dienst dessen, was als letztes Movens des Offenbarungsgeschehens
herausgestellt wird: krisis als Scheidung (nicht primär: Gericht
! vgl. 72) der Erwählten von den Nichterwählten. „Johannes
baut Topoi der apokalyptischen und gnostischen Endvorstellung
in den Gedankengang ein. um seine Überzeugung vom gegenwärtig
sich vollziehenden Gericht zu verschlüsseln, es jedoch gerade
auf diese Weise zu aktualisieren" (277). So erschließt sich denn
(am Ende des Buches!) auch der Haupttitel der Arbeit, der nichts
mit der Blindcnhcilung von Kap. 9 zu tun hat, sondern nur mit
deren Schlußversen 9,39-41: Der johanneische Christus realisiert
lediglich die prädestinatianischen Bestimmungen unter den
Menschen, indem er die Erwählten, die aus Blinden zu Sehenden
werden, scheidet von denjenigen, die zu sehen wähnen, aber erst
recht zu Blinden werden - eben auf dem Glatteis der Offenbarungsreden
des johanneischen Christus mit seiner „ raffiniert tük-
kischen Methode" (23 A.73).

Der dritte Teil versucht, der vorgetragenen Hypothese historische
Plausibilität zu verschaffen (248-272). Die These: Der Tod
des Lieblingsjüngers muß die johanneischen Gemeinden erschüttert
und eine Irritation an der präsentischen Eschatologie
ausgelöst haben. Es kommt zur Abwanderung, worin sich viele in
die traditionelle Eschatologie oder in gnostische Heilsvorstellungen
flüchten. Der johanneische Kreis aber tritt die Flucht nach
vorne an: Gerade an der Haltung zum Tod des Lieblingsjüngers
kommt es an den Tag, wer wirklich verstanden hat und demzufolge
erwählt ist (Joh21.15-24) - nochmals ein Akt der Scheidung
, befördert durch die Technik absichtsvoller Irreführung auf
der Leimspur traditioneller Eschatologie. Im gesamten Duktus
der Arbeit gewinnt der Tod des Lieblingsjüngers eine herausragende
Bedeutung, die sich nicht nur in der Lazarusperikope (in
Ausweitung einer Vermutung von Eckhardt 1961), sondern im
gesamten JohEv widerspiegelt; hier ist der Anlaß für die Aufnahme
des Modells „prädestinatianisch-dualistischer Weltanschauung
" zu suchen (271). Damit ist denn auch die offene
Flanke dieser Arbeit angesprochen: die kaum probematisierte
Bedeutung der „prädcstinatianisch-dualistischen Weltanschauung
" im JohEv. Für die Diskussion des so umstrittenen johanneischen
Dualismus (Problem des Entscheidungsdualismus
usw.) reichen zwei weitgehend nur zitierende Anmerkungen (25f
A.81; 270 A.106; vgl. auch 170 nicht aus (zumal sogar in der
Gnosisforschung die Frage der 'animae naturaliter salvandae' bekanntlich
umstritten ist!). Die klassische Fragestellung, inwieweit
Joh dualistische Denkfiguren christologisch umbricht, fällt
vollständig aus, wird also nicht mit der These konfrontiert, wonach
Christus nur gerade die Prädestination ratifizieren soll. Es
müßte diskutiert werden, inwiefern ein Satz wie 12,47 nicht die
Funktion des johanneischen Dualismus nachhaltig beeinflußt,
inwieweit die inkarnatorische Bewegung des Logos in die Finsternis
des Kosmos hinein nicht auch das dualistische Rahmenwerk
selbst tiefgreifend tangiert. Dies alles sind Fragen, die fast
gar nicht auch nur angesprochen werden, und genau dies wäre
nötig gewesen, um die Hauptthese gegen klassische theologische
Einwände zu sichern. Um im gefährlichen Zirkel des Autors zu
bleiben: Taumelt nicht auch er im irrlichternden Moor der Rätselrede
, wenn er die dualistische Sprach- und Vorstellungswelt
selbst nicht mehr auf möglichen Tiefensinn hin auslotet?

Neben diesem grundsätzlichen Problem sind nun einige weitere
Schwierigkeiten der Arbeit anzusprechen. Wie kommt es
dahin, daß für die supponierte Technik der Irreführung kaum
textliche Signale auszumachen sind (ganz anders als bei den .klassischen
' Mißverständnissen)? Wie läßt sich am Text selbst wahrscheinlich
machen, daß Martha in 1 1,23-27 trotz des vollen abschließenden
Bekenntnisses im Mißverstehen befangen bleibt, so
daß ihre Rolle als „hohle Maske", (145) enttarnt werden muß?
Ich vermisse einen Zugang zum „Mißverständnis", der sich von

literaturwissenschaftlichen Fragestellungen her bewegen läßt -
etwa die Berücksichtigung der Möglichkeit performativen Re-
dens (der johanneische Christus würde dann wirken, wovon er
spricht, nicht ratifizieren!). Überhaupt nicht gefragt wird nach
möglichen Vorgaben und Analogien zu der vom Vf. beanspruchten
Irreführungstechnik (ich denke nicht nur an die Parabeltheorie
, sondern auch an antike Diskussionen über das Verhältnis von
esoterischem und exoterischem Mythosverständnis, wonach die
Rätselrede absichtsvoll verhüllt, was die Weisen gleichwohl zu ergründen
vermögen; vgl. J. Pepin, Mythe et allegorie, Paris 21976.
179-181). Es fehlt eine angesichts der heutigen Forschungslage
doch wohl unerläßliche religionsgeschichtliche Grundsatzdiskussion
zum Problem einer gnostischen Johannesdeutung (vgl-
nur 150ff- daß Joh in 14,2fund 17,24 die .gnostischen'lokalen
Kategorien zerstöre, bleibt mir übrigens ganz fraglich). Darf man
die bekannten Probleme, vor die das JohEv in bezug auf die klassischen
Themen von Wunder und Kreuz stellt, so leichtfüßig erledigen
, wie das der Vf. tut (zum Kreuz 60f, wo die Arbeit von H-
Kohler zum Kreuz [AThANT 72, 1987] leider nicht mehr berücksichtigt
ist; zum Wunder 38f. 118f, wo die These der Lazarus-
Wundergeschichte als einer „formale<n> Hülse" etwa in Diskussion
mit U. Schnelle [FRLANT 144, 1987] zu erhärten wäre)-
Sodann: Müßte nicht auch danach gefragt werden, wie sich die
im JohEv erkennbaren Tendenzen verhalten zu dem. was in näherem
Umkreis in Uoh (2,28; 3,2; 4,17 - auch Irreführungen?)-
in weiterem Umkreis in der Apk (O. Böcher!) an Zukunftserwartungen
zur Sprache kommt? Wie verhalten sich supponierter
Prädestinatianismus und Mission (z.B. 17,28)? Diese Fragen
werden virulent gerade im Blick auf die vom Vf. rekonstruierte
Geschichte der johanneischen Gemeinden. Daß der Tod des
Lieblingsjüngers eine Epoche in ihrer Geschichte abgeschlossen
hat, ist unbestreitbar, aber ob gerade die präsentische Eschatologie
erschüttert wurde, ist sehr zu fragen (warum nicht eher die futurische
?) - ganz abgesehen von der heiklen Frage, ob Petrus
wirklich so total desavouiert wird (185ff.259ff). Und vor allem:
Rückt bei Stimpfle nicht unversehens der Tod des Lieblingsjüngers
in die Rolle, die gemeinhin in christlicher Tradition dem Tod
des Gottessohns selbst zugesprochen wurde („an diesem Tod entscheidet
sich, ob einer wirklich glaubt" ; das JohEv ist „ letztendlich
das unmittelbare literarische Produkt theologischer Reflexion
über den Tod des geliebten Jüngers" (270f)-

Die Studie weckt im Leser viele Fragen und Einwände. Gerade
darin liegt aber auch ihre Stärke: Der Vf. versteht es, eine schart
konturierte, interessante Hypothese konsequent und kompromißlos
zu verfechten und so die Besonderheiten dieses merkwürdigen
Evangeliums neu ins Bewußtsein zu rücken. Die traditions-
geschichtlichc Frage nach der Eschatologie der johanneischen
Schriften bleibt indes weiterhin offen.

Bern Samuel Vollenweider

Wolff, Christian: Der zweite Brief des Paulus an die Korinther-
Berlin: Evang. Verlagsanstalt 1989. XXI, 270 S. gr. 8°= Theologischer
Handkommentar zum Neuen Testament, 8. Lw. DM
16,-.

Nachdem sich der Vf. bereits durch seine Interpretation des ersten
Korintherbriefs als kundiger Exeget paulinischer Texte ausgewiesen
hatte, läßt er nun eine sorgfältig gearbeitete Kommentierung
des zweiten Korintherbriefes folgen. Dabei läßt er den
Leser an allen Schwierigkeiten, die sich einer gültigen Klärung
vielfach verhandelter Probleme in den Weg stellen, vollen Anteil
nehmen. Indem er präzis über unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten
, wie sie in der bisherigen Forschung vorgeschlagen wurden
, informiert und dann sein jeweils umsichtig begründetes eigenes
Urteil abgibt, bietet er dem Benutzer des Kommentars die