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Ausgabe:

1991

Spalte:

508-510

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reichert, Angelika

Titel/Untertitel:

Eine urchristliche praeparatio ad martyrium 1991

Rezensent:

Rohde, Joachim

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 7

508

mias die Gleichnisse vorwiegend aus der polemischen Situation
Jesu heraus „hörerbezogen" interpretiert hatte, sparten herme-
neutische und literaturwissenschaftlich orientierte Auslegungen
der letzten Jahrzehnte die Frage nach den Hörern weithin aus.
Dagegen sucht Rau unter Verwendung rhetorischer Einsichten
den Sprecher (Jesus), den Hörer (Anhänger und Gegner) und die
beide verbindende Situation (Aussendung bzw. Apologetik) methodisch
und theoretisch genauer zu betrachten. Er befindet sich
damit in gewisser Nähe zu dem Modell von Edmund Arens [vgl.
ThLZ 108 (1983) 921/3], der auch den poetischen mit dem kom-
munikationswisscnschaftlich-pragmatischcn Ansatz verbunden
hatte (und damit bei einem Jeremias redivivus angelangt war).

Rau setzt in einer gleichnishermcneutischen Grundlegung
(18-107)- wie sollte es auch anders sein - bei Adolf Jülicher ein,
nutzt dessen Entwurf aber nicht ausschließlich als Negativfolie,
sondern gelangt zu einer wesentlich positiveren (und zutreffenderen
) Würdigung als bisher üblich, indem er u. a. daran erinnert,
wie bereits Jülicher als Leistung des Gleichnisses beschrieben
hatte, was heute üblicherweise der (geglückten) Metapher zugeschrieben
wird. Mit Jülicher und gegen Weder u. a. möchte er Parabeln
und Gleichnisse nicht als erweiterte Metaphern, sondern -
nach der Unterscheidung von Weinrich - als Erzählung bzw. Besprechung
von Welt verstehen. Sie verdanken ihre Formung den
Regularitäten, die nicht nur als Gesetze der Volksdichtung (Ol-
rik-Bultmann) beobachtet, sondern auch von Quintilian (und
Aristoteles) als Anforderungen der Rhetorik an plausible und
darum weithin fiktive Geschichten beschrieben worden sind.
(Möglicherweise läßt sich auch die Logik des Traums als ein benachbartes
Phänomen der Auseinandersetzung mit der widerstrebenden
Wirklichkeit fassen [103ff]). Als solche Bedingungen
für die regelrechte Erzählung nennt und erläutert Rau nach Quintilian
die brevitas und die luciditas als die Voraussetzungen der
credibilitas sowie des movere adfectus. Da die Situation der
Hörer und des Sprechers durch Angaben von außerhalb der
Gleichnisse kaum genau genug bestimmt werden kann, muß aus
der Plausibilitätsstruktur, die solche Erzählungen bzw. Besprechungen
in der sorgfältigen Analyse hergeben, der „Ausschnitt
der Lebenswirklichkeit", die Situation, erschlossen werden, die
der Rekonstruktion Anschaulichkeit zu geben vermag.

Im Anschluß an diese theoretische Grundlage folgt (107-171)
die Auslegung von sechs jesuanischen Reich-Gottes-Gleichnis-
sen (Mk4,26 - 29; Lk 13, 18f; 13,20f; Mt 13,44 und 45 sowie
13,52 [!]). Sie wenden sich an Anhänger und Sympathisanten,
deren Zweifel, Zaudern bzw. eschatologische Sehnsucht ihre
Antwort finden. Mt 13.52 spiegelt das Selbstbewußtsein des historischen
Jesus angesichts eines in die Nachfolge berufenen
Schriftgelehrten. Dem stellt Rau Mt 7,9-11 und Lk 15,11-32 gegenüber
(172-215), die als Beispiele für die grenzüberschreitende
Souveränität Jesu im Umgang mit pharisäischen Anfragen einerseits
und Sündern andererseits dienen. Dabei erhebt sich die-
nicht endgültig beantwortete - Frage, warum kein Reich-Gottes-
Gleichnis von Gerechten und Sündern spricht (aber Mt 13,47 bis
50?). Ein Problem allerdings, das mit Harnisch u.a. weitergeführt
werden kann zu der Frage, wo überhaupt die einleitende Gleichsetzung
mit dem Reich Gottes in den Texten ursprünglich sein
dürfte.

In der folgenden zweiten Hälfte (216-394) werden 21 z.T.
schon bekannte, aber meist stiefmütterlich behandelte Parallelen
zu Lk 15,11-32 einer ausführlichen Auslegung gewürdigt. Diese
reichen von Papyrusbriefen, die das Thema des ungeratenen Sohnes
illustrieren, über rhetorische Aufgaben zu Vater-Sohn-
Problemen bis zu philonischen und rabbinischen Texten aus diesem
Motivbereich. Den Schluß dieser Reihe bildet ApkSedr
6,5-7. Diese Zusammenstellung soll belegen, daß rhetorische
Schulaufgaben über den hellenistischen Einfluß auch in die jüdische
Tradition hinein gewirkt und damit indirekt den historischen
Jesus beeinfluß haben (399 u. ö.). Das Paradigma eines Vaters
zweier Söhne wäre ihm damit aus der Überlieferung bekannt
. Zugleich wird im intensiven (und extensiven) Vergleich
der Texte untereinander die Differenz zu Lk 15,11-32 vielfach
festgehalten (299, 311, 326 usw.). Die Pointe des Gleichnisses
von dem „Mann, der zwei Söhne hatte", wird als Versuch bestimmt
, pharisäische Kritiker zur Freude an der Umkehr der
Sünder (und zur Mahlgemeinschaft) einzuladen. Sie findet in
allen Paralleltexten keine Entsprechung, so daß sich die Einzigartigkeit
der Verkündigung und des Verhaltens Jesu an diesem Text
erweisen läßt.

Eine ausführliche Zusammenfassung (395-407), ein Verzeichnis
der Paralleltexte, Literaturverzeichnis und Stellenregister
runden die Arbeit ab.

Raus Versuch, die von Jülicher und Jeremias gestellte Frage
nach der Situation, in der die Gleichnisse Jesu ihre Wirkung erzielten
, wieder aufzunehmen, verdient Anerkennung. Wichtig
dürfte die Forderung nach methodischer Gleichbehandlung und
Gleichbeachtung für die jüdischen Texte sein, wie sie jetzt etwa
Thoma/Lauer oder Dschulnigg praktizieren, die Rau nicht mehr
berücksichtigen konnte.

Ob allerdings das Motiv eines Vaters mit unterschiedlichen
Söhnen jeweilsausderSchultradition entnommen sein mußoder
nicht doch schlicht aus dem familiären Alltag gegriffen wird,
dürfte noch nicht entschieden sein. Dann aber müßte der leider
doch wertende Vergleich mit rabbinischen Parallelen (aus der
Schriftauslegung) anders und vorsichtiger ausfallen.
Merkwürdig ist, daß Rau, der die kommunikative Kompetenz
des Sprechers der Gleichnisse herausarbeitet, nicht die zeitliche
Dimension des „Sprachereignisses" betrachtet. Hier fällt Rau
wieder hinter die Maßstäbe zurück, die Weder und Harnisch setzten
, als sie die nachösterliche Umprägung der Gleichnisse nicht
als Verfälschung vom ursprünglichen Text abhoben, sondern als
die notwendige Interpretation des erzählten Erzählers durch die
überliefernde Gemeinde verstanden. Wenn die Parallelen zu
würdigen sind und für die geistesgeschichtliche Einordnung herangezogen
werden, dann dürfte die Theologiegeschichte in der
christlichen Überlieferung der Texte nicht so kommentarlos
außer acht gelassen werden. M.a. W.: Die ursprüngliche und
überraschende Pointe der Gleichnisse hat sich m.E. „verbraucht
" und wurde dann durch christologische und moralische
o. ä. Deutungen ersetzt.

Gelegentlich erschwert die Lektüre, daß bekannte Beobachtungen
an häufig traktierten Texten sehr breit wiederholt und
ausführlich behandelt werden (zu Lk 15,11-32). Dem stehen die
kurzen Behauptungen zu anderen neutestamentlichen Gleichnissen
gegenüber, die leider nur zur Illustration herangezogen werden
.

Rau bringt das Gespräch über die Gleichnisse mit seinem kommunikationstheoretischen
und rhetorischen Ansatz weiter. Wer
sich an dem Gespräch beteiligen will, muß sich mit ihm ausein'
andersetzen.

Leipzig Christoph Kahler

Reichert, Angelika: Eine urchristliche Praeparatio ad Martyrium-
Studien zur Komposition, Traditionsgeschichte und Theologie
des 1. Petrusbriefes. Frankfurt/M.-Bern-New York-Paris:
Lang 1989. XIII, 614 S. 8°= Beiträge zur biblischen Exegese
und Theologie, 22. Kart. sFr 85.-.

Die Untersuchung ist eine Dissertation, die im Sommerseme'
ster 1988 von der Evangelisch-theologischen Fakultät an der
Universität Münster angenommen wurde. Erst- und Zweitgut'
achter waren die Professoren Günter Klein und Dietrich-Ale"
Koch.