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Ausgabe:

1991

Spalte:

467-469

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Krauss-Siemann, Jutta

Titel/Untertitel:

Von der Freizeit zur Muße 1991

Rezensent:

Krause, Friedrich

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 6

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matischer als ausgearbeiteter Natur, mehr einladende Reformu-
lierung als analytische Rekonstruktion von Problemzusammenhängen
zu sein beanspruchen (217). Um so störender fallen einige
Überanstrengungen auf. in der sich die Darstellung ebenso
unbescheiden wie unzureichend als „Überbietung" vorfindli-
cher Positionen gibt, dabei aber oft hinter dem Stand der jeweiligen
Fachinterpretation - etwa bei Schleiermachers Praktischer
Theologie (73ff, 171ff) oder Tillichs Symbol- und Kulturtheologie
(76ff), aber auch etwa in der Auslegung von Claudius'
„Abendlied" (6ff) - enttäuschend zurückbleibt. Die Darstellung
der Aufklärungsästhetik (47ff, 11 lff), die einst für die protestantische
Theologie eine Schlüsselstellung als selbstbewußter Dialogpartner
einnahm, wird - wenn überhaupt (denn Namen wie
Meier, Gottsched, Bodmer, Breitinger, Mendelsohn, König, Solger
u. a. wird man vergebens suchen!) - nur als ein grober Verschnitt
präsentiert, der hart an die Grenze zum Klischeehaften führt.
Ungeheuerlich nehmen sich Passagen aus, die den kritischen Rationalismus
als vermeintliche Theorie einer „Stückwerk-Technik
" nahezu ungebrochen mit Auschwitz, Hiroshima und My Lai
in Verbindung setzen (167). Bleibt noch am Rande das Bedauern
zu notieren, daß ausgerechnet eine Monographie über Ästhetik
derart von Druckfehlern strotzt, ein im Satz beschädigtes Literaturverzeichnis
enthält (296/297) und zudem nicht selten mangelndes
Sprachgefühl vorweist: Die miserable Formulierung
„von daher" taucht in Variationen nicht weniger als dreißigmal
auf; manche Vergleiche und Redewendungen wie z. B. die „empirischste
Ebene" (232) oder der „Griff" „seines Blickes" (242)
geben dem Leser oftmals Rätsel auf; und ein Satz wie: „Als
Friedrich Nietzsche an der Jahreswende 1888/89 in Turin laut
weinend sich einem Droschkenpferd an den Hals wirft und dann
zu Boden sinkt, ist auch eine Traditionslinie abendländlicher Ästhetik
an ihr Ziel gekommen" (61), ist wohl kaum als Satire gemeint
.

Wenn aufgrund dieser mehr oder weniger gravierenden Mängel
das vorliegende Werk auch nur bedingt zum einführenden
Lehrbuch tauglich ist und im einzelnen nur mit einer gehörigen
Portion Skepsis gelesen werden kann, bleibt es doch am Ende
eine bemerkenswert engagierte Problemanzeige mit einer vielseitig
anregenden Materialfülle, die sich der Praktische Theologe
nicht entgehen lassen, mit der er sich jedoch auch nicht begnügen
sollte.

Reutlingen Volker Drehsen

Krauß-Siemann, Jutta: Von der Freizeit zur Muße. Grundlagen
und Perspektiven freizeitbewußter kirchlicher Praxis. Neukirchen
-Vluyn: Neukirchener Verlag 1989. 189 S. &. Kart. DM
39,80.

Die Freizeitforschung stellt Freizeit als ein Strukturelement
des Lebens in der postmodernen Gesellschaft dar. Publikationen
registrieren Einstellungsänderungen, Bedeutungszuwachs in be-
zug auf Identifikations- und Sinnfindung und fällen Wertegrund-
entscheidungen. Als einer der großen „Freizeitunternehmer"
stellte sich die Kirche der Aufgabe vorwiegend in einem ethisch
orientierenden Handeln. Verkürzung der Arbeitszeit, Zuwachs
arbeitsfreier Zeiten ohne Ausgleich, Vermeiden ökologischer Belastung
, leistungsbedrohte Freizeit sind einige Indikatoren für
neuen Handlungsbedarf. Nicht in Konkurrenz zu anderen Freizeitangeboten
, sondern vom ureigenen Auftrag her sollte Kirche
ein ihr spezifisches Angebot bereithalten.

Vor diesem Hintergrund bietet die Studie wertvolle Grundlagen
und Perspektiven freizeitbewußter Gemeindearbeit.

Die Untersuchung ist begrenzt auf tägliche und wöchentliche
Freizeit, die von Erwachsenen am Wohnort verbracht wird. Sie

setzt sich das Ziel, die Herausforderung durch den sensiblen Freizeitbereich
wahrzunehmen, das Bewußtsein für eine gastfrei
Ortsgemeinde zu fördern und für die kirchliche Praxis Phantast
zu eröffnen, die aus dem ganzheitlich bestimmten Begriff
„Muße" entfaltet werden sollte.

Das Buch ist gut lesbar und in sechs Abschnitte gegliedert. In
einer kurzen historischen Ableitung (Abschnitt 1) des Begrifft5
„Freizeit" wird auf dessen Anteile an Freiheit, Frieden und Ruhe
im Mittelalter hingewiesen und auf die Diastase von Arbeit und
Freizeit seit der Reformationszeit aufmerksam gemacht. Es folg1'
durch eine exkursartige Auseinandersetzung mit den Arbeite"
Oposchowskis ausgeweitet, die Darstellung unterschiedliche'
Freizeittheorien und die Rezeption der Gegenstandsdiskussio"
aus soziologischer und pädagogischer Sicht (Abschnitt 2). Wohl
begründete Anfragen an undifferenziert gebrauchte Begriff
(„ Freizeitgesellschaft" „ Freizeitproblem ") warnen vor einer un-
besehenen Einspeisung freizeitpädagogischer Programme in d'e
kirchliche Praxis. Dagegen unternimmt Frau Krauß-Sieman"
aufgrund signifikanter Freizeiterwartungen (Freiheit, Ruhe-
Glück) den Versuch, im Umgang mit Zeit das Phänomen Muße
in die Debatte einzuführen. In ihrer Skizze zu Begriff und Ge-
schichte (Abschnitt 3) wird der ganzheitlich-übergreifende CW'
rakter von „Muße" aufgezeigt. Er sperrt sich gegen eine gleich'
förmige, leere Zeit. „Muße" qualifiziert Zeit als „erfüllte Zeit
die in Arbeit und Freizeit erlebbar ist. Der 4. Abschnitt (Freize'1
aus theologisch-kirchlicher Sicht) geht diesem „positiven Zeitak'
zent" vertiefend nach. Umgang mit der Zeit im Alten Testame"'
wird am Beispiel des Sabbat verdeutlicht, der an die Ruhe, d'e
allem Tun vorausgeht, und an den Raum geschützten Friedens et'
innert. Neutestamentl. Zeitverständnis orientiert auf erfüllt
Zeit in der Nachfolgegemeinschaft als einer Erfahrung von Frei'
heit, Ruhe und Glück. Exemplarisch werden die Ergebnisse def
Kirchen- und Theologiegeschichte (Augustin. Thomas v0"
Aquin, Luther) dargestellt. Dabei wird der Trend, das Bild eines
hellenistischen Mußebürgers zu korrumpieren und statt desse"
eine belastende Arbeitsethik aufzurichten, erkennbar.

Schleiermacher hat „als erster Theologe eine wissenschaftlich1'
Theorie der Freizeit und ihrer Gestaltung" entwickelt. Die „e"1'
ladende Gemeinschaft" bedeutet einen Hinweis auf den Prozeß
von der Freizeit zur Muße. Eine „erste allgemeine Konzept'011
kirchlicher Freizeitpädagogik" bietet F. Naumann, der siebe"
Tätigkeitsfelder, bezogen auf Arbeitnehmer, aufstellt. Insgesamt
hatte die Freizeitthematik für die kirchliche Arbeit und die The0"
logie nur marginale Bedeutung.

Theologisch Weiterführendes zum Stellenwert von „Freizeit
und „Muße" findet sich bei Bonhoefferin seinen Ausführunge"
zur Mündigkeit, Leiblichkeit, zum Recht auf Glück, Spielraun1
der Freiheit und zu dem, was er über das „Vorletzte" sagt. H'er
erlebt die Autorin Nähe zur im Buch vorgestellten Konzept'011
einer freizeitbewußten Gemeindepraxis.

Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Sonntagsdiskussi°"
äußert sich die Systematische Theologie (K. Barth, H. Thielicke'
W. Trillhaas, C. Gremmels) zu Freizeitbereich und Kirche. E"1
Vergleich der verschiedenen Ansätze in der Praktischen Thed0'
gie (H.-E. Bahr, E. Lange, M. Josuttis) und einer Stimme aus der
katholischen Theologie (R. Bleistein) ergibt, daß der Auftrag de<
Kirche aufgrund der Verlagerung im Verhältnis von Arbeit un"
Freizeit erkannt, jedoch Konkretisierungen für die unmittelbar
Gemeindepraxis zu selten bzw. einseitig sind.

Der Überblick von Stellungnahmen zur Freizeit aus de"1
Raum der Kirche (Abschnitt 5) ergibt ein buntes Bild. Unter'
schiedlich differenziert, haben Gremien, Akademien, Synode"
u.a. eine interessante Aufarbeitung zum Themenbereich ge'e'
stet. Kritische Anfragen und der zu beobachtende Trend hin zl1
Fragen des Tourismus ändern nichts daran, daß die vorgelegt1
Studie auf vieles zurückgreifen kann.