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Ausgabe:

1991

Spalte:

423-424

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Jürgen

Titel/Untertitel:

Paulus 1991

Rezensent:

Räisänen, Heikki

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Seite 1

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423

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 6

424

Neues Testament

Becker, Jürgen: Paulus. Der Apostel der Völker. Tübingen: Mohr
1989. VII, 524 S. 8! Kart. DM 48,-.

Nach Günther Bornkamms Paulus (Kohlhammer: Stuttgart
1969) liegt keine neue Gesamtdarstellung des Werkes und Denkens
des Apostels im deutschen Sprachbereich vor. Dieser Mangel
ist jetzt behoben worden durch das große Buch Beckers, dem
auch nichts Vergleichbares in anderen Sprachen zur Seite gestellt
werden kann. Daß das Buch nicht nur für den Gebrauch durch
Exegeten konzipiert ist, ist zu begrüßen. Allerdings wird es, im
Unterschied zu Bornkamms Buch, teilweise etwas zu schwer lesbar
sein, um „Brücken zu allen denen schlagen" zu können, „die
überhaupt Interesse an Paulus haben". Auch kann folglich bezweifelt
werden, ob es eine glückliche Entscheidung war, auf
einen Apparat ganz zu verzichten - falls man die Voraussetzung
nicht teilt, Fußnoten dienten nur dazu, Fachkollegen zu beweisen
, daß sie zur Kenntnis genommen wurden!

Doch das sind Kleinigkeiten: es handelt sich schlicht um ein
Meisterstück. Die Darstellung ist übersichtlich. Probleme werden
gut aufgezeigt, Argumente behutsam abgewogen.

Die Einleitung stellt die Aufgabe: Um dem „geschichtlichen"
Paulus den Vorrang vordem „angeeigneten" zu sichern, soll Paulus
„konsequent entwicklungsgeschichtlich" dargestellt werden
(3). Bornkamm behandelte typischerweise „Leben und Wirken"
und „ Botschaft und Theologie" in zwei getrennten Teilen, wobei
der erste chronologisch, der zweite thematisch-systematisch angelegt
war. Demgegenüber werden bei B. Leben und Denken des
Apostels, „Einleitungsfragen" und Theologie, geschickt zusammengeflochten
. Leben und Wirken geben das chronologische Gerüst
ab. in das die Erörterungen zu den verschiedenen Briefen jeweils
eingefügt werden. So folgt der Darstellung des Weges von
Antiochia nach Korinth die Besprechung des aus Korinth gesandten
IThess. dann wiederum eine Schilderung des Gründungsaufenthalts
in Korinth. Einsichten z.B. über die soziale
Wirklichkeit der Missionsgemeinden als Hausgemeinden werden
an passender Stelle eingeschaltet.

Jeder Brief wird für sich exegetisiert, ohne Zuhilfenahme der
späteren. Dagegen wird das Verhältnis des jeweils zu behandelnden
Briefes zu früheren Briefen berücksichtigt und eine gewisse
Entwicklung aufgezeigt: die Kreuzestheologie der Korinther-
briefe wird auf der Erwählungstheologie des IThess aufgebaut;
die Rechtfertigungsbotschaft des Gal setzt beides voraus usw. Es
entsteht ein imponierendes Gesamtbild. Man kann sich allerdings
fragen, ob nicht alles etwas zu schön aufgeht, so daß eine
andere relative Chronologie (vor allem die Ansetzung des Gal vor
den Korintherbriefen) verheerende Folgen haben könnte.

Erst gegen Ende folgt ein relativ kurzes Kapitel über die
Grundzüge paulinischer Theologie. Denn obwohl Paulus sich
(etwa in seinen eschatologischen Vorstellungen) wandelte, kann
man auch konstant gebliebene Grundentscheidungen konstatieren
. Dabei kann von einer „Erfahrungstheologie" gesprochen
werden (3950; „Paulus redet aus der Erfahrung seiner Berufung
und vor allem aus der Erfahrung, wie sie durch das Wirken des
Evangeliums ...von den Gemeinden und ihm gemacht wird".
Die Betonung der Erfahrungsbasis erinnert an den Ansatz der
Religionsgeschichtlichen „Schule", der von der exegetischen
Zunft etwas voreilig aufgegeben, aber neuerdings in Göttingen
etwa von G. Strecker und U. Schnelle erneuert wurde. Dementsprechend
weist B. den kerygmatheologischen Ansatz Bultmanns
zurück. Die paulinische Anthropologie wird im Vergleich zu
Bultmann an recht untergeordneter Stelle besprochen (406ff),
obwohl auch Bultmannsche Töne mitklingen, vor allem in
(Über)Betonung des „Begehrens".

Trotzdem unterstreicht auch B. (mir scheint, in gewisser Spannung
zur Betonung der Erfahrungstheologie), daß Paulus ein konsequenter
Denker war. Das wird jedoch nur durch subtile Dis-
tinktionen zwischen Intention und Darstellung (z. B. 379) sowie
durch einige gequälte Deutungen (etwa der positiven Aussagen
zum Gesetz: 421) ermöglicht. Einiges (vor allem im Gal) wird als
polemische Übertreibung (3200. anderes (eschatologische Einzelheiten
) als „Randphänomene und Splitter" (470) heruntergespielt
.

Zwei leitende Vorstellungen im paulinischen Denken werden
zu Recht herausgestellt: Orientierung am nahen Ende und Loslösung
vom Judentum. Das letztere wird sehr prononciert, aber
überzeugend herausgearbeitet gegen diejenigen, die heute die
Kontinuität unterstreichen wollen. Bis zur Zeit der Kollektenreise
war Paulus „antijüdisch eingestellt" (492)! Und auch der
Römerbrief kann das Gesamtbild nicht verändern, zumal B.
auch bei Rom 11 zwischen dem „Anliegen des Textes" und
der „textlichen Konkretion" unterscheidet (499). Römll,25ff
spricht nur von einer letzten Mission an Israel (501). Das kann
durchaus stimmen. Aber war „ Israel" denn wirklich kein existentielles
Problem für Paulus, als er den Römerbrief verfaßte?

B. bleibt dankenswerterweise meistens bei der geschichtlichen
Ebene. Gelegentlich jedoch erlaubt er sich auch einen Kommentar
zum „angeeigneten Paulus". So sei die Weissagung
Rom 11,25f, die den apokalyptischen Fahrplan zu kennen wähnt,
von der Geschichte überholt (502). Und in der Tat sollte jenes
Orakel aus dem Dialog mit dem Judentum am besten ausscheiden
. Aber des Gleichgewichts wegen wären ein paar kritische
Worte zur Loslösung des Apostels vom Judentum am Platz gewesen
. B. schweigt darüber, daß das negative Gesetzesverständnis
des Paulus das Problem der Theodizee heraufbeschwört, ohne
einer Lösung nahezukommen: Wieso konnte Gott ein solches
Gesetz zu einem solchen Zweck geben? Rom 11 hängt doch zutiefst
mit dieser Frage zusammen.

Hochinteressant und von grundlegender Bedeutung sind B.s
Ausführungen über die antiochenische Gemeinde und ihre Theologie
, in der die Anschauungen des Paulus wurzeln (107-119). Er
nimmt an, Paulus „habe alsbald die Ereignisse in Antiochia führend
bestimmt" so daß die antiochenische Theologie eher als
„frühpaulinisch" denn als „vorpaulinisch" zu bestimmen sei
(110). Weniger einleuchtend ist die These, daß die christliche Gemeinde
zu Antiochia sehr früh beschloß, „aus dem Synagogenverband
auszuziehen" (91). Ihr widerspricht die Tatsache, daß
Paulus nicht nur bei der Synagoge missionierte, sondern sich
dabei auch mehrfach sehr konkret der Jurisdiktion der Synagoge
unterstellte, indem er sich die Peitschungsstrafe gefallen ließ.

Nach B. war Antiochia bis zum Apostelkonvent die einzige Gemeinde
, die gesetzesfreie Heidenmission betrieb. Nachher hätten
auch viele andere den Konvent als „Signal" benutzt, „den Weg
Antiochias auch zu gehen" (980- M. E. liegt die Annahme näher,
daß Antiochia gar nicht so anders war und daß Hellenisten auch
anderswo ähnliche Mission trieben; das zeigt die Wirksamkeit
von Apollos, der Wandermissionare von 2Kor und der unbekannten
Gründer der römischen Gemeinde, vielleicht auch
schon das Aufkommen des korinthischen Enthusiasmus (den B-
auf bloß innerpaulinische Gründe zurückführen muß).

Also fordert B.s große, eigenständige Synthese zur Auseinandersetzung
und Weiterarbeit heraus. Dafür gebührt dem Vf. warmer
Dank und hohes Lob. Für jeden, der sich in der Zukunft zu
Paulus äußern will, ist die Kenntnis von B.s Arbeit unentbehrlich
. Eine englische Übersetzung wäre sehr zu begrüßen.

Helsinki Heikki Räisäncn

Betz, Hans Dieter: Hellenismus und Urchristentum. Gesammelte
Aufsätze, 1. Tübingen: Mohr 1990. VIII, 303 S. gr. 8. Lw. DM
168,-.