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Ausgabe:

1991

Spalte:

388-389

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Steinhilper, Rolf

Titel/Untertitel:

Depression 1991

Rezensent:

Schmidt-Rost, Reinhard

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 5

388

zierten (Neu-) Interpretation der sog. Evangelischen Räte als
„Möglichkeiten eines erlösten Daseins" (835). Hinzu kommen in
eine nachchristlich-christliche Zukunft weisende Gedanken zur
Klerikerausbildung und Priesterexistenz, in der der heidnische
Schatten, innere und äußere Natur insgesamt integriert sind und
freigewordene Subjekte keine Amtskorsette mehr brauchen - der
Priester als prophetische und dichterische Existenz, als „ein integraler
Mensch" (734).

(4) Zur Grundcharakterisierung: Das Werk „Kleriker" ist kein
Lehr- oder Fachbuch im engeren Sinn. Drewermann weist die Erwartung
, es ginge wesentlich um die Herkunft und Berechtigung
dogmatischer Sätze und um theologische Begründungen an vielen
Stellen deutlichst zurück; im Mittelpunkt stehen vielmehr
psychologische Fragen. Wenn es um religiöse Denkfiguren geht,
dann um deren psychisches Antriebs- und Motivationspotential.
Ich scheue mich nicht, das dickleibige Buch ein „Lesebuch" zu
nennen. Mit seinen seitenlangen Zitaten - auch und immer wieder
Texte von Nietzsche - liest es sich tatsächlich wie ein umfassender
, kommentierter, ingeniös strukturierter Riesen-Reader
zum Thema. Zu diesem Profil gehört freilich auch, daß dieses
Werk an vielen Stellen weitschweifig ist - wenn dasselbe immer
noch einmal „mit anderen Worten" gesagt und selbst ein Märchenstoff
wie der von „Hänsel und Gretel" voll nacherzählt wird
(3880- Offensichtlich hat der Autor nicht Zeit genug gefunden,
um ein kürzeres Werk mit gleichem Anspruch und Niveau zu präsentieren
. Wieviel Geduld braucht selbst ein wohlmeinender und
neugieriger Leser, wenn er bis zur Seite 342 vorgedrungen ist und
ihm dort beschieden wird, „der Kern der Psychogenese des Klerikerseins
(sei) noch nicht wirklich analytisch durchdrungen".

(5) Es ist unübersehbar und unüberhörbar: Drewermann will
mit seinem Ansatz eine „kollektive Psychotherapie des Gesamtsystems
Kirche" (854). Insofern ist auch nach seinem Selbstverständnis
sein theologisch-therapeutischer Blick öffentlich und
politisch und steht nicht von vornherein und notwendig im Widerspruch
zu Wegen und Zielen „politischer Theologie" (vgl.
z. B. 667). Um so bedauerlicher ist, daß Drewermann trotz dieser
Grundeinsicht sein Programm: erst das Individuum, dann die
Gesellschaft völlig undialektisch durchsetzen will und andere Positionen
, wie etwa die von J. Metz diffamierend analytisch zu
entlarven versucht: „das Christentum der Selbstverleugnung,
der Gefühlsverspcrrung, des gepflegten Pflichtmasochismus"
(692). Was andere theologische Gesprächspartner anbetrifft: L.
Boff kommt etwas besser weg (vgl. 844ff). K. Rahner wird wegen
seiner anthropologischen Wende seines theologischen Denkens
immer wieder positiv ins Gespräch gezogen, regelmäßig aber
auch kritisiert wegen seiner abendländischen und vor-analyti-
schen Bewußtseins-Befangenheit.

Trotz solcher kritischer Einschränkungen bleibt gänzlich unbestritten
, daß Drewermanns Diagnose trifft und betroffen macht.
„Kleriker" ist ein durch die philosophische und psychoanalytische
Kritik der letzten 200 Jahre gegangener „Pfarrerspiegel" des
ausgehenden 20. Jh. - in weiterem Fokus auch ein kritischer und
hilfreicher Spiegel für die Psychodynamik groß- und kleinbürgerlicher
Verarmungsängste, autoritärer Abhängigkeiten und sexuell
-erotischer Leibfremdheit insgesamt. Es gibt wohl kaum
einen Leser, der nicht hier oder dort Muster aufgedeckt findet,
die ihm bei sich selbst oder in seiner unmittelbaren Umgebung
tief und ärgerlich vertraut sind.

So treffend und wirkungsvoll Drewermanns Diagnose ist: Angesichts
weder historisch noch gegenwärtig repräsentativer Gesamtbestandsaufnahmen
bleibt ihre so umfassend behauptete
Gültigkeit umstritten. Erlaubt Drewermanns klinisches und romanhaft
-literarisches Ausgangsmaterial tatsächlich so weitgehende
Ausschließlichkeiten und Verallgemeinerungen? In diesem
Zusammenhang bleibt auch erwähnenswert, daß katholische
Rezensenten (G. Denzler in der FAZ und P. Zulehner in der

„Weltwoche,,) inzwischen daraufhingewiesen haben, daß Drewermann
bei der Fülle seiner Literatur andere aktuelle theolo-
gisch-tiefenpsyhologische Untersuchungen zu seinem Thema
nicht hinreichend einbezogen hat, so Beiträge von A. Arens, G.
Griesl, R. Hostie, M. Oraison.

Drewermanns Diagnosen strahlen Schärfe und Wärme zugleich
aus. Respektabel und lesenswert ist, wie er beide Komponenten
noch an den heikelsten Themen, etwa an der Liebe zwischen
einem Kleriker und einer verheirateten Frau durchhält
(600ff). In seinen Lösungs- und Erlösungsvorschlägen wünschte
ich mir freilich manchmal nüchternere und kritischere Töne.
Wenn es den Klerikern und mit ihnen dem Rest der neuzeitlichen
Welt wirklich gelänge, nach vorne und zurückzufinden in eine
kosmische und liebes-metaphysische Geborgenheit, der Natur
und den Müttern nahe: Wie lange ließe sich diese Spielart religiös
gestimmter Romantik leben, bis sich neue Schatten zeigten und
bis aus ihr neue Abgründe sich auftäten? Liest Drewermann denn
selber nicht, was er zitiert, wenn er mittels der Novelle „ Der Ketzer
von Soana" von G. Hauptmann dafür plädiert, daß „das uralte
matriarchale Erbe der Religionsgeschichte wiederentdeckt
... werden" müßte? Bei Hauptmann steigt die Urmutter Eva aus
der Tiefe der Welt - „ und sie steigt und steigt in die Ewigkeit, als
die, in deren gnadenlose (!) Hände Himmel und Hölle überantwortet
sind." (743)

Marburg Gerhard Marcel Martin

Steinhilper, Rolf: Depression - Herausforderung an die Seelsorge
. Stuttgart: Calwer 1990. 255 S. 8*= Calwer Taschenbücher
, 14. Kart. DM 24,80.

Depression - ein Auftrag für die Seelsorge? Zweifellos! Die
Tröstung der Trauernden hatte stets auch mit den Melancholikern
zu tun. Erst recht, seit sich die Seelsorgelehre auch als Humanwissenschaft
und die Seelsorge als Diakonie an akuteilen
Nöten und Bedürfnissen des einzelnen zu entfalten begann,
wurde die Frage nach dem melancholischen Menschen systematisch
bearbeitet (C. I. Nitzsch, Prakt. Theol. III, 2. Aufl. Bonn
1868, 173ff).

Worin aber besteht die Herausforderung an die Seelsorge?
Nach Auffassung des Psychiaters in der Hoffnungslosigkeit:
„Für die christliche Seelsorge wirft die Schuldthematik des Depressiven
besondere Probleme auf, da an zentraler Stelle der
Aspekt der Hoffnung verlorengegangen ist und keine Einsicht in
die Krankheit besteht." (WBC, Gütersloh 1988, 237).

St. stellt sich dieser Herausforderung mit verschiedenen Mitteln
und auf mehreren Wegen: Einsetzend mit der kritischen Darstellung
zweier einschlägiger Arbeiten aus neuerer Zeit (Tacke,
Adams), dient der erste Hauptteil der Vermittlung psychiatrischen
Wissens (I. „Die depressive Erkrankung in psychiatrischer
und psychotherapeutischer Sicht") und damit dem Ziel des Buches
, „den depressiven Menschen aus psychiatrischer und psychotherapeutischer
Sicht zu verstehen, um seinem Menschsein
gerade in der Zeit der Erkrankung besser zu entsprechen und die
vielfältigen Ausformungen deutlicher wahrzunehmen" (17).

Die tiefenpsychologische und psychosomatische Interpretation
der Depression - vor allem in der Fassung, die ihr H. Tellen-
bach gegeben hat -, wird zugrunde gelegt, aber auf diesem Grund
sucht St. selbständig nach Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten
für den Seelsorger in Wahrnehmung (II.) und Begleitung
(III.) des depressiven Menschen.

Der zweite Teil (II.) enthält zur psychiatrischen Interpretation
komplementär Interpretationsangebote aus verschiedenen religiösen
Erfahrungshorizonten: G. Holes Basler Untersuchung
über den Glauben bei Depressiven (104ff), Forschungen über die
„Glaubensanfechtung und ihre Antwort in der christlichen Er-