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Ausgabe:

1991

Spalte:

374-375

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Phänomenologische Philosophie 1991

Rezensent:

Salaquarda, Jörg

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373

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 5

374

«igt, wie sehr die Erstempfänger die Briefe ursprünglich gehütet
haben. Goethe bewahrte einige Hamannbriefe wie Reliquien auf
(leider hat aber Claudius seine Hamann-Briefe verbrannt). Es
muß für Arthur Henkel nicht leicht gewesen sein, aus dem großen
Bestand der Briefausgabe 50 Briefe für den kleinen Briefband
auszuwählen. Er hat eine Quintessenz herausdestilliert, und zwar
unter dem Bemühen, sowohl den wichtigen Phasen von Hamanns
Lebenslauf als auch den großen Namen der Korrespondenten
als auch der Sachhaltigkeit der Briefe gerecht zu werden.
Man kann bestätigen, daß dies weitgehend gelungen ist.

Wer sich in diesen kleinen Kosmos versenkt, begegnet den
wichtigen Namen des zweiten Drittels des 18.Jh.s: Herder,
Goethe, Kant. Lavater, Claudius, Reichardt, Mendelssohn, Ja-
eobi, um nur einige zu nennen. Er begegnet zugleich dem ungemeinen
Aufbruchscharakter dieser Zeit zwischem dem Ende der
europäischen Aufklärung und der französischen Revolution, in
der die Romantik und der deutsche Idealismus schon vorbereitet
werden. Er begegnet auch einem geistigen Austausch von Menschen
, Gedanken und Büchern von wirklich europäischem Charakter
, einem Schmelztiegel, wie es ihn nur damals ein paar Jahrzehnte
lang gegeben hat. Er begegnet dem in der Spiegelung der
Königsberger Randlage, in der aber immerhin das Werk Kants
wächst. Und er begegnet natürlich Hamann, der mit dazu bei-
trug. dies alles in Gärung zu versetzen. Hamann bleibt auch in
den Briefen eine unverrechenbare Gestalt. „Glaube ist nicht jedermanns
Ding, und auch nicht communicable, wie eine Waare,
sondern das Himmelreich und die Hölle in uns" (271). Aber dies
zusammen mit einer schier unersättlichen Lust an der Literatur
der Jahrhunderte und auch der Zeit und daran, an der Bewegung
der Gedanken, der Gestaltungen, selbst der ökonomisch-
Politischen Zustände teilzunehmen.

Arthur Henkels Auswahl ist die des besten Kenners der Hamann
-Briefe und muß von dieser Kennerschaft her gewürdigt
werden. Dennoch fällt auf, daß die letzten Lebensjahre Hamanns
zwischen 1784 und 1788 einen deutlichen Schwerpunkt erhalten
haben, also die Zeit des großen Jacobi-Briefwechsels und der
Münsteraner Reise. Man hätte sich etwas reichlichere Briefwiedergaben
aus der geistigen Aufbruchszeit nach 1758, etwa aus
dem Johann-Gotthelf-Lindner-Briefwechsel, vorstellen können.
Bemerkenswert ist die einleitende Hamann-Darstellung, die eine
vorzügliche Gesamtbegegnung erlaubt und mit souveräner
Leichtigkeit geschrieben ist. Hoch bemerkenswert ist aber auch
die Briefkommentierung auf über 120 Seiten (unter Mitarbeit
yon Sybille Hubach). Sie beschreitet forschungsmäßiges Neuland
. Sie erlaubt einen fast vollständigen Einblick in die persona-
•en und literalen Beziehungshintergründe der Briefe. Sie ist gei-
stes- und literaturgeschichtlich eine besondere Leistung und
macht für den, der das möchte, den Lesevorgang zu einem kenntniserweiternden
Genuß. Es wäre großartig, wenn es gelänge, der
ganzen Hamann-Briefausgabe eine solche Kommentierung beizugeben
.

S. 102/383 und 201/418 sollte man die „Herrherrsager" zunächst auf
Lk6.46 beziehen. Zu S. 134/396, Luthers Randglosse zu Neh 3,5 kann ergänzt
werden, daß es sich um ein Sprichwort aus dem Bereich des Würfelspiels
handelt, etwa mit dem Sinn: „Die Armen können, die Reichen wollen
nichts geben; so.tut es der Mittelstand" (vgl. WA Deutsche Bibel IX/2,
s- 329 Anmerkung). S. 142/399 bei Luthers „dicker" Auslegung der vierten
Bitte des Vaterunsers handelt es sich doch wohl um die Auslegung im
»Großen" Katechismus.

Arthur Henkels Hamann-Briefauswahl ermöglicht einen vorzüglich
geleiteten Zugang zu Hamanns Persönlichkeit und Wirken
, bietet aber darüber hinaus ein ungemein bereicherndes
Lesevergnügen, das geistes- und theologiegeschichtlich Interessierten
recht sehr empfohlen werden kann.

Jena Martin Seils

Ströker, Elisabeth, u. Paul Janssen: Phänomenologische Philosophie
. Freiburg-München: Alber 1989. 408 S. 8°= Handbuch
Philosophie, geb. DM 95,-.

Im Zuge seiner Bemühungen zur Überwindung des sogenannten
„Psychologismus" hat E. Husserl in den .Logischen Untersuchungen
' (1900/01) den bis dahin von ihm verwendeten Ausdruck
„deskriptive Psychologie" als mißverständlich verworfen
und durch „Phänomenologie" ersetzt. Generell hat er diesen in
der Philosophiegeschichte vorbelastete» Terminus (Lambert,
Kant, Hegel u. a. haben ihn für je verschiedene Disziplinen bzw.
Vorgehensweisen herangezogen) zur Bezeichnung einer Methode
der Wesensschau verwendet. Die darin mitgesetzte Auffassung
von Philosophie hat viele Anhänger und Nachahmer gefunden.

Die Autoren des Bandes weisen in ihrem „Vorwort" darauf
hin, daß die so entstandene „phänomenologische Schule" kaum
mehr überschaubar ist. Da Husserl die Phänomenologie für die
der Philosophie schlechthin angemessene Methode gehalten hat,
konnten er und seine Nachfolger prinzipiell die gesamte disparate
Fülle möglicher philosophischer Themen und Probleme auf
phänomenologischem Wege behandeln. Diese Inhalte über das
zum Verständnis des Ansatzes unerläßliche Minimum hinaus
mitzuberücksichtigen, würde das Grundkonzept des „Handbuchs
Philosophie" bei weitem sprengen. Man erwarte daher
keine Einführung in die Phänomenologie für Anfänger! Es handelt
sich vielmehr um einen auf hohem Abstraktionsniveau angesiedelten
Überblick über die Entwicklung der phänomenologischen
Methode. Nur wer mit zumindest einem phänomenologischen
Entwurf methodisch und inhaltlich vertraut ist, wird aus
der Lektüre des Bandes Gewinn ziehen. Ihm freilich bietet das
Buch über bloße Referate hinaus auch eingehende kritische Diskussionen
.

Der erste, von E. Ströker verfaßte Teil behandelt die Bemühungen
und Entwürfe Husserls selbst. Ferner gibt die Autorin eine
knappe Übersicht über die Wege, die seine wichtigsten Schüler
der Göttinger Zeit eingeschlagen haben. Im zweiten Teil geht P.
Janssen einigen „eigenständigen Weiterentwicklungen" des Hus-
serlschen Programms nach.

Mit seiner epochemachenden Neuorientierung wandte sich
Husserl nicht nur gegen die eingangs erwähnte Auslieferung der
Philosophie an die empirischen Wissenschaften im „Psychologismus
" sondern auch gegen die sich wissenschaftlicher Überprüfung
ganz oder teilweise entziehenden Ansätze traditioneller
Metaphysik. Positiv plädierte Husserl für eine eigenständige,
streng wissenschaftliche Philosophie. Deren Gegenstand seien
die in den menschlichen Bewußtseinsakten gemeinten Bedeutungen
. Weil diese Bedeutungen oder „Wesen" zwar im alltäglichen
Bewußtseinsstrom enthalten, darin aber auf vielfältige Weise
überlagert und verdeckt sind, bedürfe es besonderer methodischer
Anstrengungen, um sie unverfälscht in den Blick zu bekommen
: das soll die Phänomenologie leisten.

Ströker gibt eine präzise Darstellung der ursprünglichen Auffassung
von „Phänomenologie" in den ,Logischen Untersuchungen
' und der späteren Modifikationen bzw. Erweiterungen, was
hier nicht im einzelnen nahgezeichnet werden kann. Von den
„Einklammerungen" oder „Reduktionen", durch die Husserl
die philosophisch relevanten Wesenheiten aus dem empirischen
Bewußtseinsstrom herausfiltern wollte, war der für die erste
Wirkungsgeschichte entscheidende Schritt die sogenannte „eide-
tische Reduktion" durch die die Wahrnehmung von Individuellem
, etwa eines Farbtupfen, in die Wahrnehmung einer Wesenheit
, z.B. dieser Farbe als solcher, umschlägt. Dieser Schritt
eröffnete der Phänomenologischen Philosophie ein weites Arbeitsfeld
, das von den subtilsten ontologischen, gnoseologischen,
wissenschaftstheoretischen etc. Klärungen angefangen bis hin zu
trivialen Sachverhalten alles Denkbare umfaßt. Während viele