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Ausgabe:

1991

Spalte:

369-371

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Titel/Untertitel:

450 [Vierhundertfünfzig] Jahre evangelische Theologie in Berlin 1991

Rezensent:

Rogge, Joachim

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369

Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 5

370

Territorialkirchengeschichte

Besier, Gerhard, u. Christof Gestrich [HG].: 450 Jahre Evangelische
Theologie in Berlin. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
•989. 648 S. m. 20 Abb. gr. 8°. geb. DM 98,-.

«Insgesamt verhielt sich Joachim II. zeitlebens zögernd und abwartend
, wenn es darum ging, die Reformation voranzutreiben"
(' 1), aber dann gab es doch ein klares Datum mit einem für das
gottesdienstliche Leben wichtigen Tatbestand, daß Berlin-
Brandenburg als „ein Spätling unter den deutschen evangelischen
Landeskirchen" (5) die Reformation einführte: „Die offizielle
Einführung der Reformation erfolgte am 1. November 1539, als
der Kurfürst mit dem märkischen Adel durch Bischof Matthias
von Jagow in der Spandauer Nikolai-Kirche das Abendmahl in
beiderlei Gestalt empfing. Daß Joachim II. diesen Schritt noch
halbherzig tat, läßt auch die 1540 im Druck erschienene Brandenburgische
Kirchenordnung erkennen." (10) Außer dieser letzteren
Feststellung gab es noch andere Kriterien dafür, daß die Entwick-
'ung in diesem Lande „die katholisierendste der ganzen Reformationszeit
" wurde, aber der Durchbruch war erzielt.

In Berlin lehrende und kirchenleitend tätige Theologen und in
einem Falle auch ein Kirchenjurist (H. Wildner) haben sich des
oben gekennzeichneten Datums angenommen und wichtige Epochen
oder Episoden der seitherigen Theologie- und Kirchengeschichte
dargestellt. Das ist sehr zu begrüßen, zumal es ein derartiges
Unternehmen bisher noch nie in dieser schönen
Zusammenstellung gegeben hat. Den beiden Hg., die an der
Kirchlichen Hochschule in Berlin (West) lehren, ist für ihre Initiative
sehr zu danken. Sie beziehen in den Autorenkreis auch
einige ihrer Kollegen von der Kirchlichen Hochschule in Berlin
(Ost), dem früheren Sprachenkonvikt, mit ein (R. Mau, A. La-
minski, W. Krötke).

Die Hg. legen zwar einen umfänglichen Band vor, beanspruchen
aber trotzdem nicht, „eine annähernd vollständige Theologiegeschichte
Berlin-Brandenburgs seit der Reformation" (5) zu
bieten. Das Gemeinschaftsunternehmen einer Ringvorlesung in
Berlin-Zehlendorf im Wintersemester 1988/89, ergänzt durch
einige weitere Beiträge, hat einen stattlichen Aufsatzband ergeben
, dessen Einzelteile auch in keiner Weise aufeinander abgestimmt
sind. Lediglich die ausführliche „Einleitung" (9-38), verfaßt
von beiden Hg., bietet eine kontinuierlich vorgetragene
verlaufsgeschichte von 1539 bis in die 80er Jahre unseres Jh.s In
diesen schönen Überblick sind die 25 themenbezogenen weiteren
Beiträge gewissermaßen einzuhängen, ohne daß der eingangs gebotene
Verlaufsrahmen schon in jedem Falle auf sie hinwiese.

Die einzelnen Beiträge füllen nicht einfach lückenlos die
großen Themenkomplexe der Berlin-Brandenburgischen Kirchengeschichte
, aber dafür gibt es einen anderen großen Vorzug:
Jeder bleibt bei seiner Arbeitsspezifik und trägt geschichtsbezo-
gen ihm selbst Wichtiges, seinen eigenen Forschungs- und Interessengebieten
Adäquates vor. Im großen und ganzen sind die
Aufsätze chronologisch geordnet. Sie sind in jedem Fall aus den
Quellen gearbeitet und ermöglichen durch bisweilen ausführliche
Anmerkungsapparate jede Weiterarbeit. In diese anerkennende
Bemerkung ist auch der Beitrag des Westberliner Bischofs
Martin Kruse einzubeziehen, der sein altes Arbeitsgebiet um Ph.
J- Spener mit dem immer neu aktuellen Fragen nach der Volkskirche
verbindet (Christ werden in der Volkskirche. Speners Verständnis
der Wiedergeburt, 125-137).

Eine wissenschaftliche Einzelwürdigung der Aufsätze verbietet
der hier zur Verfügung stehende Raum, aber Hinweise auf Personen
und Sachen, die hier in bunter Folge Beachtung gefunden
haben unter dem genannten Sammelthema, erscheinen angebracht
.

Interessant und gewiß gar nicht langweilig zu lesen ist die lange Reihe
derer, die die Brandenburgische Geistes- und Kirchengeschichte mitgeprägt
haben und die mehr oder weniger ausführlich denn auch hier begegnen
: Kurfürst Joachim II. (R. Mau), Georg Buchholzer, erster evangelischer
Propst an St. Nikolai in Berlin (A. Laminski), der Liederdichter und
streitbare Berliner Prediger Paul Gerhardt (E. Axmacher), die drei der
kirchlichen Union vorarbeitenden Theologen und Philosophen Leibniz,
Molanus und Jablonski (R. Catsch), der Vater des klassischen Pietismus
Spener (M. Kruse), die Neologen Spalding und Lüdke (K.-H. Lütcke), der
so starke Wirkungen sehr verschiedener Art auslösende Hegel (C. Gestrich
), der Prediger, Seelsorger und theologische Lehrer Schleiermacher
(H. Knudsen), der erste Berliner Kirchenhistoriker an der neugegründeten
Universität August Neander (K.-V. Selge), der große Sozialrerormer Johann
Hinrich Wichern (R. Kramer), der führende Religionsgeschichtler
Otto Pfleiderer (W. Schmithals), die praktischen Theologen Paul Kleine«
und Friedrich Mahling (P. C. Bloth), der universal gebildete, Wissenschaftsorganisation
betreibende und Wissenschaftsgeschichte schreibende
Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (U. Wickert), der Erforscher des Urchristentums
Adolf Deißmann (K.-G. Eckart), der Geschichtsschreiber der
„Alten Kirche" Hans Lietzmann (D. Wyrwa), der Kirche und Theologie
gleichermaßen vor dramatische Entscheidungsfragen stellende und Träger
des Widerstandes gegen das Hitlerregime Dietrich Bonhoeffer (W.
Krötke), der theologische Vordenker für den Weg der Bekennenden Kirche
Karl Barth (G. Besier).

Es ist leicht zu ersehen: In Berlin-Brandenburg, u. a. im Feld und
Umfeld der 1810 gegründeten Universität, wirkten überragende
Persönlichkeiten, deren Einfluß über das hier angesprochene
Kirchengebiet weit hinausging. Die Theologiegeschichte in Berlin
-Brandenburg war in vieler Hinsicht eine Personengeschichte,
deren Wirkung auch Gegenwart und Zukunft der Nachgeborenen
beeindrucken wird.

Neben der oben geschilderten Beobachtung sind Themenkreise
auffällig, die nicht nur zufällig forschungsbezogen durch
die Autoren hervorgehoben werden. Berlin-Brandenburg steht
für Sachfragen, die weit über das Territorium hinaus Probleme
gezeigt und Entwicklungen ausgelöst haben und auslösen. Hier
sind folgende Stichworte zu nennen:

Lutherische Theologie (R. Mau, E. Axmacher, J. Wirsching), kirchliche
Union (R. Catsch), Verständnis des Pfarramtes (K.-H. Lütcke), Universitätstheologie
mit ihren einzelnen Disziplinen (R. Liwak, C. Gestrich, H.
Knudsen, K.-V. Selge, W. Schmithals, P. Welten, P. C. Bloth, U. Wickert,
K.-G. Eckart, D. Wyrwa, H. Balz, W. Krötke), Universitätsgeschichte (R.
Liwak u.a.), Entwicklung des kirchlichen Synodalwesens (H. Wildner),
Missionstheologie (H. Balz), Bekennende Kirche (G. Besier), Religionspädagogik
(C. Grehtlein), Probleme heutiger Gottesdienstagende im ökumenischen
Konspekt (K.-P. Jörns), das Gespräch zwischen Juden und
Christen (P. von der Osten- Sacken).

Ein generelles Urteil über das Ganze verbietet sich angesichts der
Mitwirkung von 25 Autoren, deren Namen und Funktionen dankenswerterweise
vollständig notiert sind (647). Auf jeden Fall hat
man hier nicht nur einen Blick in die Vergangenheit vor sich. In
Berlin lebende Theologen mit den sie jetzt beschäftigenden Themen
stellen sich vor. Insofern fließen jetzt forschungs- und arbeitsintensiv
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander
und machen den Sammelband deshalb nicht nur für Geschichtsforscher
interessant. Wenn die Rekonstruktion des „Berliner
Modells" ...„in religionspädagogischem Interesse" aufgenommen
wird (C. Grethlein), so ist sogar die Thematik des Religionsunterrichtes
mitverhandelt, die gegenwärtig innerkirchlich zu
den meistverhandelten Gegenständen gehört, nachdem christliche
Unterweisung im Horizont von Gemeindebildung auf dem
Hintergrund der Entwicklungen in der bisherigen BRD und der
bisherigen DDR energisch angegangen wird.

Es ist müßig und könnte als leidige Beckmesserei verstanden
werden, wenn ein Rez., jeweils mit dem speziellen Autor als
Adressaten, hier und da Einwände anbringt. Wenn nun doch einige
Anmerkungen genannt werden, dann mit der Einrechnung der
Situationsgebundenheit, unter der das hochwillkommene, jetzt
vorliegende Werk entstanden ist und gelesen werden wird.